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Die schönsten Inselromane

Insel- und Küstenromane - romantisch und gefühlvoll

Mit diesen Büchern können Sie sich an die Nord- und Ostsee träumen oder an die Küsten Cornwalls. Gefühlvolle Liebesromane und und spannende Familiensagas warten auf Sie.

Begeben Sie sich auf intensive Reisen an die schönsten Küsten und lassen sich vom einmaligen Charme des Insellebens verzaubern! Losgelöst von der Hast und dem Lärm des Festlands und vom unendlichen Meer umgeben, führen die Insulaner ein eigenes Leben. Ein idealer Schauplatz also für die Entstehung kleiner Bäckereien, dramatische Familiensagen, Freundschaften in Zeiten des Umbruchs, die große Liebe und resolute Hobbyermittlerinnen. 

Rauschendes Meer, weicher Sand unter den Füßen und packende Geschichten im Herzen – wir wünschen Ihnen eine wundervolle Zeit mit unseren Büchern! 

Der neue Nordsee-Inselroman von Regine Kölpin

„Exakt recherchiert, atmosphärisch dicht und voller Empathie erzählt, mag man das Buch gar nicht zur Seite legen.“ ―


Nordwest-Zeitung

Italienischer Flair auf Sylt

Blick ins Buch
La PalomaLa Paloma

Ein Sylt-Krimi

La Paloma, ade – auf, Matrosen, ohé!
Mamma Carlotta weilt wieder einmal bei Schwiegersohn Erik und den Enkeln auf Sylt – doch von Entspannung kann keine Rede sein. Erst muss sie Erik beim Nordic Walking unterstützen, damit ihm die sportliche Motivation nicht abhandenkommt, und dann gibt es neue Aufregung: Die ehemalige Sylter Operettensängerin Lydia Warenholz ist nach vielen Jahren zurück, um ihrer Karriere neuen Schwung zu verleihen. Aber am Tag nach ihrem großen Konzert wird sie mausetot aufgefunden! Außerdem herrscht dicke Luft in Mamma Carlottas Stammkneipe, seit nebenan ein schickes neues Restaurant eröffnet hat. Auch Mamma Carlotta wandert ob der miesen Stimmung ab. Oder liegt es vielleicht doch eher daran, dass ihr dort ein äußerst charmanter Italiener den Hof macht?

In den turbulenten Sylt-Krimis von Gisa Pauly prallt das Temperament von Mamma Carlotta auf die Mentalität der Inselbewohner, vor allem aber mischt sich die Italienerin immer wieder in die polizeilichen Ermittlungen ihres friesisch-wortkargen Schwiegersohns ein. Wer Rita Falk und den Eberhofer mag, wird auch von Mamma Carlotta begeistert sein.

Perfekte Cozy Crime für Ihre Strandlektüre – machen Sie Urlaub mit Mama Carlotta! 

Bücher für den Urlaub gibt es viele. Hervorragende Regionalkrimis ebenso. Doch kaum ein anderer Nordsee-Krimi bringt das Lebensgefühl auf Sylt mit so viel Charme und Situationskomik auf den Punkt wie die Mamma Carlotta-Reihe. Lassen Sie die Seele baumeln und schmökern Sie nach Herzenslust – die Romane von Gisa Pauly sind ein pures Vergnügen und ein perfekter Tipp für Ihre Urlaubslektüre. 

„Da steckt Spannung drin und jede Menge Lebensweisheit.“ SR3 Krimitipp 

Eine Figur wie Mamma Carlotta gibt es nur einmal. Seit mittlerweile 15 Jahren lässt Bestsellerautorin Gisa Pauly ihre vorlaute Schwiegermutter auf die Leser los und findet mit jedem weiteren Band der Krimireihe neue Fans, die laut lachen und in einem spannenden Kriminalfall mitfiebern wollen. 

„Gisa Pauly hat mit der redseligen Italienerin eine Sylter Prominente geschaffen, die vor Sympathie strotzt.“ Recklinghäuser Zeitung 

Mamma Carlottas unverzüglicher Weg an die Spitze der Bestsellerlisten ist kein Zufall. Gisa Pauly hat viel Herzblut in die Erschaffung ihrer liebenswerten Nervensäge mit italienischen Wurzeln gesteckt und vermischt südländisches Feuer mit kühler Cosy Crime an der Nordsee. 

Die Jagd nach dem Mörder wird mit Mamma Carlotta fast zur Nebensache

Seit mehr als 15 Jahren liefert Gisa Pauly mit ihren Regionalkrimis immer wieder Nachschub für eine riesige Lesergemeinde. Und es ist kein Ende in Sicht. 

„Die italienische Miss Marple von Sylt.“ Brigitte 

Der andauernde Erfolg der Cosy Crimes mit Mamma Carlotta beruht nicht zuletzt auf der charmanten und liebevollen Art, mit der Autorin Gisa Pauly ihrer Hauptfigur immer wieder neue Facetten entlockt. Mamma Carlotta ist eine Schwiegermutter aus dem Bilderbuch – und dennoch ganz anders.

Reihenweise Lesefutter aus den Bestsellerlisten

Spannung und jede Menge Witz garantiert: Entdecken Sie nach dem Auftakt „Die Tote am Watt“ auch alle anderen Mamma-Carlotta-Bücher der Krimireihe und kehren Sie immer wieder nach Sylt zurück. Es lohnt sich. 

  • Band 1: Die Tote am Watt
  • Band 2: Gestrandet
  • Band 3: Tod im Dünengras
  • Band 4: Flammen im Sand
  • Band 5: Inselzirkus
  • Band 6: Küstennebel
  • Band 7: Kurschatten
  • Band 8: Strandläufer
  • Band 9: Sonnendeck
  • Band 10: Gegenwind
  • Band 11: Vogelkoje
  • Band 12: Wellenbrecher
  • Band 13: Sturmflut
  • Band 14: Zugvögel
  • Band 15: Lachmöwe
  • Band 16: Schwarze Schafe
  • Band 17: Treibholz
  • Band 18: Breitseite
  • Band 19: La Paloma

1

Im allerletzten Augenblick hielt sie sich an der Tischkante fest. Beinahe wäre sie vom Stuhl gefallen! Mamma Carlotta setzte sich gerade hin, hob den Kopf, der ihr auf die Brust gesunken war, und drückte die Wirbelsäule an die Rückenlehne. Vielleicht sollte sie das Radio anstellen, um sich wach zu halten? Aber Musik würde sie nur erneut einlullen, und irgendwelche Wortbeiträge wären vermutlich so langweilig, dass ihr damit das Gleiche passieren würde. Es war doch immer dasselbe! Niemand sagte ihr Bescheid, keiner ihrer Angehörigen dachte darüber nach, dass sie sich Sorgen machte, solange nicht alle zu Hause waren.

Nun merkte sie, dass der Zorn es vielleicht schaffte, sie wach zu halten. Negative Gefühle hinderten viel eher daran, sich zu entspannen und in den Schlaf zu sinken. Sie öffnete das linke Auge und blickte zur Uhr. Beinahe Mitternacht. Die Pizzeria, in der Felix kellnerte, musste eigentlich längst geschlossen haben. An Wochentagen aßen dort Familien, oft mit kleinen Kindern, die früh ins Bett mussten. Aber da die Pizzeria den Eltern von Felix’ Freundin gehörte, konnte es immer sein, dass ihr Enkel sich entschloss, dort zu übernachten. Das tat er manchmal, aber nicht immer, sodass seine Großmutter nie genau wusste, ob es Sinn hatte, auf ihn zu warten. Sehr ärgerlich!

Und seit Carolin fürs Inselblatt arbeitete, musste man bei ihr immer mit allem rechnen. Vereine, über deren Jahreshauptversammlungen sie zu berichten hatte, trafen sich vornehmlich abends, und Konzerte, Lesungen oder Auftritte von Comedy-Stars fanden natürlich auch später am Tag statt. Besonders spät kam Carolin dann heim, wenn sie es schaffte, nach einer solchen Veranstaltung noch ein Interview mit einem der Künstler zu ergattern. Dann befürchtete ihre Großmutter bereits das Schlimmste, bis sie endlich zu Hause auftauchte. Dazu noch Erik mit seinen unregelmäßigen Dienstzeiten! Wenn er in einem Kapitalverbrechen ermittelte, wusste seine Schwiegermutter oft nicht einmal, ob er zum Essen kommen würde oder ob sie sich völlig vergeblich um Antipasti, Primo, Secondo und Dolce kümmerte. Zurzeit passierte zum Glück auf Sylt nichts, dem der Kriminalhauptkommissar seinen Feierabend opfern musste, aber wenn er mit der Staatsanwältin essen ging, so wie an diesem Abend, wusste Mamma Carlotta eben auch gern, ob die beiden wohlbehalten wieder im Süder Wung angekommen waren.

Dummerweise durfte sie sich nicht einmal darüber beschweren, dass sie auf dem Küchenstuhl einschlief, weil ihre Angehörigen sie so lange warten ließen. Würde sie sich beklagen, bekäme sie zur Antwort, dass sie sich frühzeitig ins Bett legen und die Zimmertür fest verschließen solle, damit sie von den Schritten auf der Treppe nicht geweckt wurde. Kein Mitglied der Familie Wolf wollte, dass sie wartete, bis alle gesund zurückgekehrt waren. Im Gegenteil! Die Kinder lachten ihre Nonna aus, und Erik hatte es sich sogar verbeten. Er sei kein kleiner Junge mehr, hatte er ihr vorgehalten, der seine Mama nach der Rückkehr anhauchen müsse, um zu beweisen, dass er keinen Alkohol getrunken habe.

Das war natürlich ein sehr dummer Vergleich. Mamma Carlotta merkte nun, dass der Ärger tatsächlich ihre Müdigkeit vertrieb und ihren Körper aufrichtete. Sie nahm sogar die Füße von dem zweiten Stuhl, den sie sich zurechtgestellt hatte, damit sie es bequemer hatte. Verächtlich schnaubte sie. Als wenn sie Erik kontrollieren wollte! So ein Unsinn! Sie wollte einfach nur wissen, dass ihm auf dem Nachhauseweg nichts zugestoßen war, ihm und der Staatsanwältin. War das so schwer zu verstehen? So hatte sie es auch bei ihren Kindern gehalten. Immer hatte sie erst schlafen gehen können, wenn alle sieben wohlbehalten in ihren Betten lagen.

Als sie Schritte vor dem Haus hörte, stand Mamma Carlotta auf und trat ans Fenster. Tatsächlich! Erik und Tilla. Hand in Hand kamen sie aufs Haus zu und küssten sich, während Erik den Schlüssel aus seiner Jackentasche suchte. Carlotta beobachtete sie gerührt. Ein ungleiches und dennoch harmonisches Paar! Ihr Schwiegersohn, so behäbig und ruhig, die Staatsanwältin dagegen quirlig und attraktiv. Ihm war, wenn es um Äußerlichkeiten ging, nur sein Schnauzer wichtig, während sie Mode liebte und ihre körperlichen Vorzüge gern in Szene setzte. In Momenten wie diesem musste Mamma Carlotta immer an die Zeit denken, in der ihr Schwiegersohn die Staatsanwältin nicht hatte ausstehen können. Grässlich hatte er sie gefunden, unverschämt, unhöflich! Und sie? Sie hatte immer wieder durchblicken lassen, dass sie Erik für unfähig hielt, viel zu langsam, zu schwerfällig. Und dann … ja, dann hatte sich etwas zwischen ihnen geändert, und schließlich war ein tiefes positives Gefühl aus dem entstanden, was früher nur Ablehnung gewesen war. Mamma Carlotta zögerte. An Liebe mochte sie noch nicht denken, denn sie glaubte, dass Erik seine Beziehung zu der Staatsanwältin auch noch nicht so nannte. Aber Mamma Carlotta war zuversichtlich, dass aus der Verliebtheit irgendwann Liebe werden würde.

Als sie hörte, dass sich der Schlüssel im Schloss drehte, nahm sie schnell ein Tuch zur Hand und wischte über die Spüle, damit es so aussah, als wäre sie bis jetzt mit Hausarbeit beschäftigt gewesen.

Prompt fragte Erik misstrauisch, als er eintrat: „Du bist noch wach?“

Die Staatsanwältin nannte es beim Namen. „Du hast auf uns gewartet?“

Das bestritt Mamma Carlotta selbstverständlich, redete von einem Fernsehprogramm, das sie gelangweilt habe, von Flecken auf der Spüle, denen sie mit einem neuen Putzmittel zu Leibe rücken wollte, und dass sie gerade beschlossen habe, zu Bett zu gehen. „Ich warte doch nicht auf euch“, schloss sie. „Wie kommt ihr darauf?“

Erik grinste, als durchschaute er sie. „Ein Absacker?“ Das war eigentlich keine Frage, sondern eine Feststellung. Er ging in die Vorratskammer, kam mit einer Grappaflasche zurück und holte die passenden Gläser aus dem Wohnzimmer.

Dr. Tilla Speck ließ sich währenddessen am Küchentisch nieder. Die Jacke ihres hellgrauen Hosenanzugs hatte sie an der Garderobe gelassen. Ihr weißer Pullover hatte auf der rechten Brust einen kleinen Tomatenfleck, der ihr vermutlich den Abend verdorben hätte, wenn er ihr aufgefallen wäre.

„Ist Carolin noch nicht zurück?“ Als Mamma Carlotta den Kopf schüttelte, sagte Tilla: „Es hat einen bösen Verkehrsunfall in Kampen gegeben.“ Sie winkte hastig ab, als sie sah, dass Mamma Carlotta erschrocken zusammenfuhr. „Nein, nein, ein Mann ist das Opfer, keine junge Frau.“

„Woher weißt du das?“, fragte Mamma Carlotta aufgeregt.

„Im La Pergola saß ein Kollege von Erik am Nachbartisch. Der hatte Bereitschaft, musste auf den Nachtisch verzichten und nach Kampen fahren. Vermutlich ist Carolin wieder als rasende Reporterin unterwegs.“ Tilla lachte amüsiert. „Wetten, dass ihr Chefredakteur sie nach Kampen geschickt hat?“

Mamma Carlotta wurde erneut von Sorge gepackt. Seit ihre Enkelin Volontärin beim Inselblatt war, sauste sie mit einem Motorroller über die Insel und verglich sich selbst gern mit Karla Kolumna, der Freundin von Benjamin Blümchen, mit deren Abenteuern sich Carolin als Kind gern beschäftigt hatte. Wie Karla Kolumna verabschiedete sie sich seitdem mit „Tschüsselchen!“ und erschien stets wie sie mit „Hallöchen!“.

„Mitten in der Nacht?“ Mamma Carlottas Stirn bekam tiefe Sorgenfalten. „Hoffentlich fährt sie vorsichtig.“

„Sie ist doch ein vernünftiges Mädchen“, sagte Tilla, und Erik bekräftigte es.

Aber Mamma Carlotta sah genau, dass auch er erleichtert aufatmete, als ein wohlbekanntes Knattern den Süder Wung heraufkam und vor dem Haus erstarb. Mamma Carlotta hatte die Tür schon geöffnet, bevor ihre Enkelin ihren Motorroller abgestellt hatte.

Carolin sah mitgenommen aus, als sie in die Küche kam. Sie war blass, die Haare hatten sich aus dem Gummi gelöst, mit dem sie im Nacken zusammengebunden waren, und hingen ihr ins Gesicht. Sie trug nur eine dünne Jacke und schien gefroren zu haben. Der September war zwar tagsüber noch warm, abends jedoch kühlte es merklich ab, und der Wind erinnerte oft schon an den Herbst. „Puh! Das war echt eine heftige Sache.“ Sie warf der Grappaflasche einen interessierten Blick zu und ließ sich auf einen Stuhl fallen, ohne die große Umhängetasche abzunehmen. Ihr Crossbody Bag, ein Begriff, den ihre Nonna sich nicht merken konnte, war immer dabei.

Erik holte ein weiteres Glas aus dem Wohnzimmer und goss seiner Tochter bereitwillig ein. „So schlimm?“

Carolin stürzte den Grappa hinunter und schüttelte sich. „Der Mann ist tot.“

Erik erschrak, Tilla brauchte einen zweiten Grappa, und Mamma Carlotta ließ sich erschüttert neben ihrer Enkelin auf einen Stuhl sinken. „Das ist ja … terribile!“

„Und dann noch Fahrerflucht“, ergänzte Carolin mit dumpfer Stimme und strich mit einer fahrigen Geste ihre Haare zurecht, die ihr jedoch gleich wieder ins Gesicht fielen. Anscheinend hatte sie mehr gesehen, als für ihr Seelenheil gut war. Jedenfalls hielt sie ihrem Vater noch einmal ihr Glas hin, der allerdings nur zögernd nachgoss.

Von einem Moment zum anderen war Erik ein Polizeibeamter, der von einem Verbrechen erfahren hatte. Er setzte sich seiner Tochter gegenüber, als wollte er sie vernehmen. „Was weiß man?“

Carolin versuchte zu grinsen, aber es misslang. „Bin ich die Polizei? Die haben natürlich alles sofort abgesperrt. Aber ein paar Fotos habe ich trotzdem machen können.“ Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche, gab die PIN ein und rief ihre Fotos auf. Dann hielt sie es ihrem Vater hin. „Alles voller Blut.“

Erik schob ihr Smartphone mit einer heftigen Geste zurück. „Wie kannst du solche Fotos schießen, Caro?“

„Ich bin Journalistin, Papa.“ Carolins Stimme klang aggressiv, wie immer, wenn ihr Vater etwas an ihrer Arbeit zu beanstanden hatte. Sie öffnete ihre Jacke, als würde ihr unter den Einwänden ihres Vaters nun endlich warm.

„Volontärin“, korrigierte Erik. „Ein Unding, dass Koopmann dir so viel freie Hand lässt.“

„Mein Chefredakteur weiß eben, dass ich gut bin.“

Diesen Satz hätte sie besser nicht gesagt. Mamma Carlotta wusste, wie Erik auf so eine Überheblichkeit reagierte. Sie wurde unruhig, suchte nach Gründen, dieses Gespräch abzukürzen oder auf einen anderen Weg zu schieben, ohne sich auf die eine oder die andere Seite schlagen zu müssen … aber es gelang ihr nicht.

„Du nennst es gut“, sagte Erik mit grimmiger Betonung und anschwellender Stimme, „wenn du dich über alles hinwegsetzt, was anständig ist? Einen Toten in dieser wehrlosen Lage zu fotografieren, das ist … einfach geschmacklos.“ Jetzt schrie er seine Tochter sogar an. „Du nimmst ihm jede Würde, merkst du das nicht? Und denk mal an die Angehörigen!“

„Noch ist das Foto ja nur auf meinem Handy“, keifte Carolin zurück.

„Du musst dich über sämtliche Anordnungen meiner Kollegen hinweggesetzt haben.“

Mamma Carlotta sah sofort, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Carolins trotzige Haltung verriet alles. „Wie kommst du darauf?“

„Garantiert bist du angewiesen worden, den Tatort zu verlassen! Niemand hat dir erlaubt, so nah an das Opfer heranzugehen. Stimmt’s?“

„Papa! Ich mache meinen Job und du deinen!“

Jetzt war es nicht nur Mamma Carlotta, sondern auch die Staatsanwältin, die Beschwichtigungsversuche unternahm. „Erik, bedenk doch …“

Aber sie kam nicht weit. Der behäbige Kriminalhauptkommissar, der selten laut und unbeherrscht wurde und eigentlich nie einen Anflug von Temperament an den Tag legte, fegte die sanfte Stimme, deren Klang schon erkennen ließ, was Tilla sagen wollte, aus der Luft. „Ich mache meinen Job schon viele Jahre“, brüllte er Carolin an. „Und du stehst gerade mal am Anfang deiner Karriere!“

„Enrico …“ Mamma Carlotta hätte eigentlich wissen müssen, dass alles noch schlimmer wurde, wenn sie in dieser Situation ihrem Schwiegersohn damit kam, dass er sich beruhigen solle. „Reg dich nicht auf, ti prego …“



2

„Da soll ich mich nicht aufregen?“ Erik ging unruhig am Fußende des Betts hin und her, seine Stimme war noch immer laut und unbeherrscht. „Am Ende betreibt Caro genauso miesen Journalismus wie ihr Chefredakteur. Koopmann setzt sich auch über alles hinweg, dem geht es immer nur um Sensationsgier.“

Tilla war vor Erik ins Bad gegangen, wohl in der Hoffnung, dass er sich beruhigt haben könnte, wenn sie ins Schlafzimmer zurückkam. Als sie einsehen musste, dass sie sich getäuscht hatte, war sie zu Bett gegangen, in der Erwartung, dass er sich neben sie legte und in ihren Armen seinen Ärger vergaß.

Aber Eriks Zorn war noch lange nicht verraucht. „Ich sollte mal mit Koopmann reden.“

Tilla, die sich schon in ihre Schlafposition gerollt hatte, schreckte hoch und schob sich ein Kissen in den Nacken. „Das kannst du nicht machen. Caro ist volljährig. Wenn du ihr reinredest, wird alles noch schlimmer.“

„Solange sie die Füße unter meinen Tisch stellt …“

„Nein, Erik!“ Nun saß die Staatsanwältin aufrecht im Bett. „Nicht dieser Spruch! Den hat mein Vater früher immer von sich gegeben, wenn er nicht weiterwusste. Der ist vollkommen antiquiert. Oder willst du etwa, dass Carolin doch wieder auszieht?“

Das wollte Erik auf keinen Fall. „Auf Sylt kann ein volljähriges Kind nicht einfach ausziehen“, knurrte er. „Hier gibt’s keine Wohnungen, die bezahlbar sind.“ Nun knöpfte er endlich sein Hemd auf und stieg aus seiner Hose.

„Carolin ist schon mal nach Hamburg gegangen.“

„Und wieder nach Hause gekommen“, ergänzte Erik.

„Das heißt nicht, dass sie auch das nächste Mal zurückziehen wird.“

„Ich werde sie trotzdem nicht anders behandeln als jede x-beliebige Journalistin. Wenn Caro meint, sie kann sich mehr herausnehmen, weil ihr Vater Kriminalhauptkommissar von Sylt ist, dann hat sie sich geschnitten.“

„Du meinst, die Kollegen von der Verkehrspolizei haben sie nicht zurückgehalten, weil sie fürchteten, dann Ärger mit dir zu bekommen?“ Sie zog das Kissen aus ihrem Nacken und streckte sich wieder aus. „Dann musst du denen Vorwürfe machen und nicht deiner Tochter.“

Erik merkte, dass er Gefahr lief, bei dieser Diskussion den Kürzeren zu ziehen. Er riss die Pyjamahose so wütend hoch, dass die Schrittnaht riss, was nicht zu seiner Besänftigung beitrug. Zornig stapfte er ins Bad, warf die Tür laut hinter sich ins Schloss und starrte eine Weile in den Spiegel. Dass Carolin aber auch ausgerechnet fürs Inselblatt arbeiten musste! Warum war sie nicht Hotelkauffrau geblieben? Kürzlich hatte er den Direktor des Hotels Horizont getroffen, in dem Carolin ihre Ausbildung begonnen, aber leider nicht beendet hatte. Der hatte durchblicken lassen, dass er nicht abgeneigt war, Carolin wieder einzustellen. Aber wenn er seiner Tochter davon erzählte, würde sie bockig reagieren, das wusste er, ohne länger darüber nachzudenken.

Er griff nach seiner Zahnbürste und drückte einen viel zu langen Strang Zahnpasta darauf, der zur Hälfte auf seinem Daumen landete. Tilla hatte recht, er musste vorsichtig sein. Mit Vorwürfen erreichte er gar nichts. Fingerspitzengefühl war gefragt. Aber ohne Zahnpasta darauf …

Mamma Carlotta ist eine typische italienische Nonna. Die Familie ist ihr Ein und Alles, ihre Kinder stehen für sie immer im Mittelpunkt. Mamma Carlotta hatte keineswegs ein leichtes Leben. Schon mit sechzehn wurde sie schwanger und bekam in kurzer Folge sieben Kinder. Ihre Schwiegereltern wurden pflegebedürftig und später auch ihr Mann schon in jungen Jahren. Ihr Leben hat immer aus viel Arbeit, Schicksalsschlägen und Entbehrungen bestanden. Trotzdem hat sie es genossen und wollte nie ein anderes. Immer war sie mit dem zufrieden und glücklich, was sie hatte. Eine, wie ich finde, bemerkenswerte Eigenschaft. 


Gisa Pauly

Ein liebenswerter Dackel, Sylt und ein Happy End

Romantik mit Meerblick

Blick ins Buch
In unseren Träumen ist immer SommerIn unseren Träumen ist immer Sommer

Roman

Voller Romantik, Inselflair und Sommersonne: „In unseren Träumen ist immer Sommer“ ist der neue atmosphärischen Urlaubsroman von SPIEGEL-Bestsellerautorin Jenny Colgan! Nie war Schottland unwiderstehlicher als in diesem Roman!

Willkommen im idyllischen Carso! Hier glitzert die Sonne auf dem türkisfarbenen Meer, und der Himmel erstreckt sich weit über dem Strand. Viele, die hier geboren sind, wollen niemals weg. Die schüchterne Verkäuferin Gertie dagegen flüchtet sich in sehnsüchtige Träume: von großen Gefühlen, von einem Beruf, der sie erfüllt, von Mut, Selbstbewusstsein und Abenteuern in der Ferne. Doch erst das Wiedersehen mit zwei früheren Mitschülerinnen bringt endlich Schwung in ihr Leben. Voller Herzklopfen ergreift Gertie ihre Chance auf einen neuen Job, neue Freunde und vielleicht sogar eine neue Liebe. Doch führt ihr Weg sie weg von dem, was sie kennt, oder lässt die Veränderung sie das Vertraute mit neuen Augen sehen?

Jenny Colgans Romane sind der Inbegriff von Wohlfühllektüre! Die Bestsellerautorin hat Millionen Fans weltweit – gehören Sie auch schon dazu?

„In unseren Träumen ist immer Sommer“ erzählt eine warmherzige Geschichte vom Glück, seinen Träumen zu folgen. Eine Geschichte um Neuanfang, den Wunsch nach Freiheit und die Sehnsucht nach Liebe!

„Ich habe jede Seite genossen.“ SPIEGEL-Bestsellerautorin Sophie Kinsella

Prolog

Der kleine Ort Carso im hohen Norden von Schottland kann kaum als Stadt bezeichnet werden, die Einwohner wären aber tödlich beleidigt, wenn man von einem Dorf sprechen würde.

Schließlich gibt es dort sogar eine – winzige, aber doch waschechte – weiterführende Schule. (Die nächste befindet sich etwa hundertzwanzig Kilometer weit weg in Kinlochbervie, was sowohl Liebeleien als auch Fehden mit Schülern von dort schwierig macht.) Carso hat auch ein paar Lebensmittelgeschäfte, unter anderem Supermärkte von Co-op und ScotNorth (aber leider keinen so coolen wie Tesco oder Greggs).

Es handelt sich um eine hübsche Ortschaft mit niedrigen, lang gezogenen, weiß getünchten Häuschen, die an einer Hauptstraße mit Kopfsteinpflaster liegen, mit kleinen Pubs und einer schönen alten Kirche. Dass die auf dem Gelände des alten Friedhofs nach und nach immer weiter absackt, ignorieren die Bewohner gegenwärtig noch.

Die Westseite von Carso geht aufs Meer hinaus. Der Ort selbst liegt am äußersten Ende von Schottland, wo die Wasser von Arktis und Atlantik brodelnd und sprudelnd aufeinandertreffen, miteinander ringen.

Draußen auf dem Meer ist eine Gruppe winziger Inseln – Cairn, Inchborn, Larbh und Archland – zu erkennen, die sich wie Perlen an einem Armband aneinanderreihen und sich in der Ferne verlieren.

Die Sonne steht hier an der Nordküste tief und wirft oft breite goldene Strahlen über das Land. Auf dem Meer, wo sich die strudelnden Wasser treffen, kann man nach Westen und über den gewaltigen atlantischen Ozean hinwegblicken oder hinüber zur Nordsee und zu den skandinavischen Vettern der Schotten. Das Wetter schlägt hier oft dramatisch schnell um, huscht von den nördlichen Highlands von hinten heran und kann jeden Tag zu jedem erdenklichen Zeitpunkt mit Nebel, Regen oder auch glasklarem, strahlendem Sonnenschein überraschen.

Das Seegras wogt, und der Strand ist lang und breit und weiß, das Meer allerdings immer gefährlich und unbarmherzig kalt. Deshalb kann man darin höchstens ein bisschen herumplanschen. Aber das saubere Wasser der darin mündenden Flüsse ist perfekt zum Baden, wenn man kein Problem damit hat, gelegentlich von einer großen Forelle gestreift zu werden oder den – Menschen gegenüber argwöhnischen – Ottern nahe zu kommen.

Natürlich sind an der Küste auch überall Seehunde zu Hause, die einander so einiges zu sagen haben und auch dir ordentlich was erzählen werden, wenn du dich an ihren Fischen vergreifen willst. Tatsächlich ist die Fischerei die Haupteinnahmequelle des kleinen Ortes, der einst die Heringhauptstadt der Welt war. Darüber hinaus gibt es viele in der flachen Landschaft verstreute Milchbauernhöfe. Es machen aber auch Touristen bei ihrem Weg auf der North 500 halt, um den nördlichsten Zipfel des Landes zu bestaunen.

Das Wasser und die Luft sind hier sauber, die Menschen sind freundlich und leben in einer verschworenen Gemeinschaft. Viele, die diese Gegend ihre Heimat nennen, erachten sie als einen der angenehmsten, sichersten, besten Orte der Welt, vor allem wenn man eine Familie gründen will. (Okay, an ein bisschen Regen darf man sich nicht stören, aber warum sollte man, wenn man dafür Turmfalken ihre Kreise ziehen oder Reiher über den Strand staksen sehen kann, wenn kleine Lämmer über Frühlingspfützen springen und man einfach nur eine vernünftige Jacke und Mütze braucht.)

Die Gegend wird regelmäßig von einer fahrenden Buchhandlung besucht, und ein winziges Flugzeug steuert die Inseln im Norden an. Wenn man sich mal ganz weltläufig fühlt, kann man sogar nach Glasgow oder London fliegen. Jedenfalls handelt es sich um einen ganz besonderen, einzigartigen Landstrich, in dem es mehr Tiere als Menschen gibt und der nicht nach jedermanns Geschmack sein mag, den viele aber als befreiend empfinden. An diesem Ort kann man den Trecker vor sich auf der Straße eben nicht zur Eile antreiben, und es hat ja auch etwas für sich, die gedrungenen Highlandkühe mit ihrem unfassbar prächtigen Fell zu betrachten, den wandernden Sand der Dünen oder die vielen, vielen Burgen, die in allen Buchten versteckt sind. Überall finden sich Hinweise auf eine jahrhundertealte Geschichte voller Könige und Clans und Schlachten und Festungen, aus einer Zeit, in der dieses raue Land von Blut getränkt war.

Heutzutage ist es so friedlich, wie eine von Amazon gerade eben noch belieferte Gegend nun einmal sein kann. Viele Menschen haben ihr ganzes Leben hier verbracht und sind nie über Glasgow hinausgekommen. Warum sollte man auch?

 

Gertie Mooney ging am Meeresufer entlang nach Hause und träumte wie üblich mit offenen Augen vor sich hin.

Dass sich Gertie in Tagträumen verlor, war nichts Neues – das kannte ihre Mutter, Jean, nur zu gut, und auch ihre Lehrer hatte es früher in der Schule nicht überrascht, genauso wenig wie ihren Chef beim ScotNorth Supermarkt, Mr Wainwright. Vor dem hatte Gertie furchtbare Angst, weil er so ein knurriger Typ war, dabei war er selten ihr gegenüber knurrig (mal abgesehen von den Momenten, in denen er sie eben wegen ihrer Tagträumereien rügte) und nahm auch an Autorennen für wohltätige Zwecke teil.

Gertie konnte es nicht gut haben, wenn Männer ihr gegenüber laut wurden, da sie mehr oder weniger komplett von Frauen großgezogen worden war.

Sie lebte zusammen mit Jean und ihrer Großmutter, Elspeth, in einem der kleinen geweißten Häuschen am Shore Close in der Nähe des Strandes. Die wirkten von außen so winzig, dass manche Leute als Bewohner eher Hobbits vermuteten als Menschen.

Heute drehten sich Gerties Tagträume um eine neue Wohnung, da ihr Zuhause momentan voller Wolle war. In dem Häuschen wohnte nämlich nicht nur ihre Familie, es war auch das Hauptquartier eines von Carsos Strickzirkeln, bekannt als „die Strickdamen“. Diese Truppe wurde nicht bloß wegen ihrer Fähigkeiten im Umgang mit 2-mm-Nadeln und einem Knäuel Angorawolle bewundert und gefürchtet, sondern auch wegen ihrer spitzen Zunge.

Gerties Vater hatte sich aus dem Staub gemacht, als sie noch ein Baby gewesen war, und lebte mittlerweile mit einer jüngeren Frau zusammen, worüber Jean nur äußerst ungern sprach. Jedenfalls waren Jean und Elspeth deshalb für Gertie ihr Ein und Alles, und die Strickdamen hatten ebenfalls bei jedem Schritt des Weges hilfreich zur Seite gestanden. Sie waren dabei gewesen, als Gertie (ganz in Gelb gekleidet) einst laufen gelernt hatte. (Das entsprechende Outfit hatten vermutlich die Zwillinge Tara und Cara gestrickt, die diese Farbe so sehr liebten.) Sie hatten auch ihre erste Schuluniform bewundert und kratzige Strickjacken dazu beigesteuert, die Gertie aus ganzer Seele gehasst hatte. Wenn sie sich diesbezüglich beschwert hatte, war aber nur missbilligend mit der Zunge geschnalzt und verkündet worden, dass sie sich ganz schön anstellte. Und als sie zum ersten Mal auf einem Fahrrad gesessen hatte, hatte die resolute Majabeen sie angeschoben.

Aber mittlerweile wurde Gertie alles ein bisschen viel, und seit der Pandemie schien die Wolle in ihrem Haus wie eine Schlingpflanze nach und nach alles zu überwuchern. Obwohl sich die Leute doch ums Klopapier gerissen hatten, nicht um Black-Isle-Wolle, stapelte die sich noch immer ein wenig provokant in Gerties winzig kleinem Schlafzimmer.

Und deshalb träumte sie heute von einer eigenen Wohnung. Also, mal sehen. Irgendein gut aussehender Millionär ist hierhergezogen und hat beschlossen … an unserer kalten, wilden Küste Luxuswohnungen bauen zu lassen. Rein theoretisch könnte das doch passieren. Und in die tollste davon, das Penthouse mit Whirlpool, zieht er selbst ein, um mal alles hinter sich zu lassen. Aber er ist furchtbar einsam und begegnet eines Tages dann der liebreizenden Gertrude …

Gertie seufzte. Sie hasste ihren Namen, der so gar nicht sexy oder romantisch war. Vielmehr garantierte er doch bereits im Voraus, wie sie Jean gegenüber oft klagte, dass sie nie jemanden kennenlernen würde. Da Jean ihr Leben lang Jean geheißen hatte, fand sie „Gertrude“ ganz zauberhaft und exotisch, außerdem war es doch ein bisschen kauzig und passte deshalb perfekt zu ihrer Tochter. Bei solchen Kommentaren verzog Gertie nur finster das Gesicht und wollte wissen, was das denn nun bedeuten sollte. Dann sagte Jean rasch: „Ach, nichts“, weil das Haus wirklich zu klein war, um sich darin mehr zu streiten als unbedingt nötig.

Die Dämmerung brach bereits herein, als Gertie in ihre Straße einbog, und durch die kleinen Fenster fiel Licht nach draußen, was Gertie wirklich hübsch fand.

Sie kniff die Augen zusammen, bis – wie einst vor langer Zeit – weder Mülltonnen der Gemeinde noch Ford Fiestas zu erkennen waren … und verlor sich plötzlich in einem Traum. Die moderne Welt um sie herum verschwand, und sie fand sich in alten Zeiten wieder, in denen sich attraktive Fischer zu den Strickerinnen gesellten, um ihre Netze zu flicken …

Im Sommer saßen die Frauen draußen und strickten in den langen Nächten, in denen es bis Mitternacht hell war. Und wenn die Männer nicht unterwegs waren, setzten sie sich mit auszubessernden Segeln dazu. Dann flogen Komplimente und spitze Bemerkungen hin und her, es wurde starker Tee und bei besonderen Anlässen auch mal ein Schlückchen Whisky getrunken. Schürzen flatterten im Wind, man konnte jenseits der Gärten einen Blick aufs Meer erhaschen, und auf einen jungen Burschen … vielleicht den feschen Iain, dachte Gertie, der ein tief ausgeschnittenes Kilthemd trug – O ja! Und der flirtete mal wieder mit … mal sehen. Da musste ein hübscher Name her. Rosamund? Nein, von denen hatte es in alten Zeiten in den Highlands wohl nicht viele gegeben. Was dann? Ah, vielleicht Maggie, die Tochter des Pferdebauern. Ja, genau, die schöne Maggie. Maggie warf lachend den Kopf in den Nacken, während sie sich ein Stück trockenen Käse teilten, und dachte, dass das nun wirklich keine schlechte Art war, einen Abend – oder vielleicht sogar ein ganzes Leben – zu verbringen: in einem Häuschen am Meer zu wohnen und im Garten zu stricken, während von den Pfeifen der Männer Rauch herüberzog. Früher oder später begann in einer Ecke jemand, die Fiddle zu spielen, weil es sich mit ein bisschen Rhythmus gleich viel leichter strickte.

Reiher flogen über die Bucht, und Gertie konnte die beiden beinahe vor sich sehen. Mittlerweile hatte der schöne junge Iain die Arme um Maggies Taille geschlungen, seine Hände berührten ihr Kleid aus rauem Leinen und ihre dienstagssaubere Schürze. Wie nett und adrett sie war! Die beiden tanzten, drehten sich im dunstigen Abendlicht, den süßen Geruch von frischem Gras in der Nase. Gelächter erklang, und die Nadeln klimperten. Als er sie im Kreis herumwirbelte, lösten ein paar der älteren Damen den Blick von ihrer Handarbeit und schauten zu. Es war einfach wunderschön, an diesem Abend hier zu sitzen, während die Vögel zurückkehrten, riesige Schwärme von Schwalben und Spatzen über die Köpfe hinwegzogen und sich im Meer so viele Fische tummelten, dass man auf ihren Rücken von hier bis zur Neuen Welt hinüberlaufen könnte. Noch bevor die Kälte zurückkehren würde, würden Maggie und Iain in der Kirche gemeinsam vor den Altar treten, und Maggie würde einen Kranz aus späten Sommerrosen im Haar tragen …

Einerseits musste sich Gertie selbst eingestehen, wie hart das Leben damals gewesen war, keine Frage. Andererseits würden die Menschen das später vielleicht auch über diese Generation sagen: „Oh, in den 2020ern hatten die Menschen es wirklich nicht leicht. Damals hat es einen ganzen Tag gedauert, nach Australien zu fliegen, und es sind noch Leute bei Autounfällen gestorben!“

Während sie sich der kleinen Haustür näherte, die direkt auf die Straße hinausging, dachte Gertie, dass manches schon unkomplizierter gewesen war: Damals hatte man eben mit siebzehn festgestellt, dass man eine Person vom anderen Ende der Straße furchtbar gern mochte, hatte sie geheiratet und war dann für immer zusammengeblieben. Auch das war nicht einfach gewesen, aber verglichen mit einem Leben voll unerwiderter Schwärmereien, Instagram, übler Apps und Verabredungen in den heutigen Zeiten … Oft sagte sich Gertie, dass sie persönlich ja lieber bei einer Geburt sterben würde, statt sich mit der Hölle modernen Datens auseinanderzusetzen. Damals hatte man auch für weniger als ein Vermögen ein Haus kaufen können, um darin tatsächlich zu leben, statt das zu machen, was die Leute heute taten: einen ordentlichen Batzen Geld für eine Wohnung an einem halbwegs schönen Ort zu bezahlen, um dann einmal im Jahr für vierzehn Tage herzukommen, über das Wetter zu klagen und sich darüber zu wundern, dass die Einheimischen über ihr Auftauchen nicht begeisterter waren.

Wenigstens, dachte Gertie, die sich immer noch in das Carso von früher zurückträumte, war damals der Wechsel der Jahreszeiten mehr oder weniger vorhersehbar und die Luft nicht verschmutzt. Die Menschen aßen frische, saubere Lebensmittel vom eigenen Land und hatten noch nie von Instagram oder Promis gehört, hatten sich zum Teil ja noch nicht einmal selbst im Spiegel gesehen. Es gab ein altes gälisches Sprichwort, das noch immer benutzt wurde: Èist ri gaoth nam beann gus an traogh na h-uisgeachan. Wörtlich bedeutete es: Lausch dem Wind in den Hügeln, bis das Wasser zurückgeht, und gemeint war damit: Auch das wird wieder vorbeigehen, was einfach hieß: So ist es jetzt nun mal.


Teil 1

Kapitel 1

„So ist es jetzt nun mal“, murmelte Jean Mooney, als eine immer noch von romantischen Highlandern aus alten Zeiten träumende Gertie durch die niedrige Haustür eingetreten und nach oben gegangen war, um ihren Arbeitskittel auszuziehen, und dort auf zweiunddreißig Pakete melierte Mohairwolle in unterschiedlichen Farben gestoßen war.

„Mum!“, brüllte Gertie wütend. „Am Ende muss ich hier noch auf einem Bett aus Wolle schlafen!“

Das Wohnzimmer des Häuschens ging nach vorne raus und hatte einen großen Kamin. Der Raum selbst war klein und der Fußboden uneben, aber rund um den offenen Kamin waren große Holzscheite gestapelt, die vor einiger Zeit aus einer Schiffswerft ihren Weg hierhergefunden hatten.

Vor Jahren hatten sie mal in Erwägung gezogen, auf eine Gasheizung umzusteigen. Die Idee hatten sie irgendwann aber wieder verworfen, worüber Gertie mittlerweile froh war. Sie blickte gern in die tanzenden Flammen.

„Das klingt doch toll“, erwiderte Jean.

„Du hamsterst.“

Jean schniefte. „Ich bin einfach nur vorsichtig. Wolle wird schließlich teurer.“

Sie blickte durch eins der rückwärtigen Fenster nach draußen, wo auf den Wiesen Schafe fröhlich smaragdgrünes Frühlingsgras mampften, das nach mehreren Wochen mit heftigem Regen üppig und köstlich spross.

„Obwohl ich wirklich nicht verstehe, warum. Bis hierher muss sie doch nur einen kurzen Weg zurücklegen.“

„Hast du mit der Wolle etwa krumme Geschäfte vor?“

„Ich weiß wirklich nicht, was du meinst.“

„Du willst sie an das Wollgeschäft verkaufen, wenn die Preise noch weiter steigen, oder?“

Jean und die Dame aus dem Wollladen verband eine weithin bekannte Feindschaft, an deren Gründe sich längst niemand mehr erinnerte.

„Ich hab echt keine Ahnung, wie du auf so etwas kommst.“

Gertie starrte die Wolle finster an, zog dann die Zimmertür hinter sich zu und stapfte nach unten. „Man könnte fast denken, dass du nicht nur Profit machen, sondern nebenbei auch noch mich loswerden willst.“

„Was denn, glaubst du etwa, ich will mein einziges, geliebtes Kind aus dem Haus haben, damit es etwas von der Welt sieht, die Flügel ausbreitet und sich ein selbstständiges Leben als erwachsene Frau jenseits dieser winzig kleinen Stadt aufbaut? Was für ein lächerlicher Gedanke!“, sagte Jean, während sie den Wasserkocher anstellte.

„Hm“, machte Gertie mit gerunzelter Stirn.

Jetzt klingelte es an der Tür, und die Strickdamen eilten in den engen Flur, in dem man eine stets in Strick gehüllte Gertie auf jeder Menge Schulfotos heranwachsen sehen konnte. Ihre sanften schwarzen Locken waren auf den Bildern mal zu Rattenschwänzen gebunden, mal zu Zöpfen geflochten.

„Hey, Gertie“, sagte Cara (oder Tara, da man sie nur schwer auseinanderhalten konnte, wenn sie die gleiche Strickmütze aufhatten). Cara und Tara waren Zwillinge, die einander hassten und aus irgendeinem Grund mit dieser lebenslangen Abneigung umgingen, indem sie den Großteil ihrer Zeit miteinander verbrachten, unter anderem die meisten Abende. Sie arbeiteten beide im Büro des Gemeinderats und gehörten in der Kirche dem Ältestenrat an. Dort meckerte eine wie die andere konstant über ihre Schwester bei der Geistlichen, die es als ihr auferlegte Buße und als Zeichen ihrer unendlichen Geduld sah, dass sie diese Dynamik nicht unterband. Dieses Arrangement funktionierte also für alle ganz gut. Die Zwillinge strickten viele leuchtend gelbe Mützen für die „Babys in Afrika“. Niemand traute sich, ihnen zu sagen, dass dieser boomende Kontinent für Wollmützen im Moment eher wenig Verwendung hatte. Falls sie traurig darüber waren, dass sie nie eigene Babys zum Bestricken gehabt hatten, dann hatten die beiden es zumindest nie zum Ausdruck gebracht.

„Na, was geht dir denn heute so im Kopf herum?“

Tara und Cara waren davon überzeugt, dass Gerties Tendenz zur Tagträumerei ein Zeichen enormer Intelligenz war, während es in der Schule tatsächlich eher ein Problem dargestellt hatte. Gertie fand es aber nicht schlimm, im ScotNorth zu arbeiten. Es war keine anstrengende Tätigkeit, die Kollegen waren nett, und sie hatte jede Menge Zeit, um ihren Gedanken nachzuhängen.

„Vor allem die Frage, wie ich mein früheres Zimmer am besten zu einem Nest umgestalte“, schnaubte Gertie.

Als Nächste kam Marian zur Tür herein, bei der das mit dem Stricken nicht so gut klappte, weil sie so große Hände hatte. Auch beim Schminken hatte sie aus diesem Grund gewisse Schwierigkeiten. Aber das alles war für sie ja auch noch relativ neu, weil sie viele Jahre auf Fischerbooten gearbeitet hatte, bevor sie sich in Bezug auf sich selbst über gewisse Dinge klar geworden war, deshalb fand das niemand schlimm.

Außerdem würde jeder ordentlich was zu hören kriegen, der auf diese Dinge hinwies, sich womöglich daran störte, sonst irgendetwas darüber zu sagen hatte oder auch nur so aussah, als wollte er den Mund aufmachen. Das lief eigentlich ganz gut, mal abgesehen davon, dass gelegentlich Passanten unbeabsichtigt ins Starren gerieten und es dann mit Jean zu tun bekamen, was schon unter idealen Umständen heikel war.

„Hey“, sagte Marian. „Ich hab gehört, dass ein neuer Mann im Lande ist.“

Alle spitzten die Ohren und drehten sich zu Gertie um, außer Majabeen, die gerade erst zur Tür hereinkam.

Majabeen liebte zauberhafte Kaffe-Fassett-Strickprojekte, die akribisch genaues Arbeiten erforderten. Generell hätten die anderen ihre Werke mehr bewundert, wenn sie nicht ohne Unterlass davon schwärmen würde, wie unglaublich ihre Kinder und Enkel waren und wie weit sie es im Leben gebracht hatten. Ein gewisses Maß an Prahlerei war nicht nur akzeptiert, sondern wurde geradezu erwartet – wenn zum Beispiel Marians Tochter befördert oder der Cousin der Zwillinge früher als erwartet aus dem Knast entlassen wurde –, aber Majabeens Nachkommen erhielten ständig irgendwelche Stipendien und Auszeichnungen. So toll das auch war, irgendwann hatte man von diesen Geschichten einfach die Nase voll. Majabeen stellte es außerdem so hin, als sei das alles eine furchtbare Last, und klagte den anderen ihr Leid darüber, dass eins ihrer Enkelkinder womöglich nicht Kardiologe, sondern nur Kieferorthopäde werden könnte. Dass Jean Gertie die ganze Tagträumerei durchgehen ließ, fand Majabeen absolut lächerlich.

„Jetzt hört schon auf!“, murmelte Gertie und vergrub das Gesicht in ihrem Strickzeug.

Jean liebte Mohair und extravagante Oberteile, auf die sie riesige selbst gestrickte Blumen nähte, um ihnen das „gewisse Etwas“ hinzuzufügen, während sich bei Elspeth alles um Fair-Isle-Muster in dunklen Grün- und Blautönen drehte. Die Zwillinge blieben bei Gelb, und Majabeen bevorzugte leuchtende Farben wie Smaragdgrün und Rubinrot, die sie nach Belieben miteinander kombinierte. Marian war nicht nur eher Strickanfängerin, sondern auch farbenblind. Weil sie außerdem eine große Abneigung gegen die Idee hegte, dass Mädchen Rosa und Jungen Blau tragen sollten, war ihre Farbwahl oft eher exzentrisch.

Es erinnerten sich noch alle gut an den Gesichtsausdruck der jungen Eltern, die hier in die Gegend gezogen waren und als Willkommensgeschenk eine Babyerstausstattung ganz in Schwarz bekommen hatten.

Gertie liebte sanfte Farben, ganz helle Blau- und Grautöne, die zum sich ständig wandelnden Himmel passten. Manchmal fügte sie einen feinen Streifen einer leuchtenden Farbe hinzu – Gold oder ein helles Rosa, das die Morgendämmerung nachzuempfinden schien. Sie arbeitete mit erdigen, zarten Schattierungen, die die Landschaft und das Wasser widerspiegelten, von denen sie ihr Leben lang umgeben gewesen war. Manchmal drehten sich ihre Fantasien darum, dass ihre Entwürfe weithin gefeiert und auf der ganzen Welt getragen wurden. Im wahren Leben äußerte sich vor allem Jean dazu, die fand, dass ihre Tochter ihre Projekte mal ein wenig „aufpeppen“ sollte.

Stricken war für Gertie nicht einfach nur eine Technik, mit der man Gegenstände herstellte, es war viel mehr. Durchs Stricken kam sie wieder zur Ruhe, wenn sie einen schwierigen Tag hinter sich hatte, weil ihr Chef knurrig gewesen war oder die Kunden ungeduldig. Das Stricken bot ihr auch die Gelegenheit, ihre kreative Seite auszuleben (was im Supermarkt beim Auffüllen von Regalen eher schwierig war, aber sie kümmerte sich dort zumindest um die Dekoration zu besonderen Anlässen). Mit unendlicher Sorgfalt wählte Gertie die Farben und Wollstärken aus, entschied sich oft für federleichtes Garn und experimentierte zum Beispiel mit einem Pillbox-Hut oder damit, wie in einer Anleitung aus den 1940ern die Schultern gestrickt wurden.

Sie erfreute sich an der Erfahrung, etwas durch die Arbeit der eigenen Hände entstehen zu sehen, das ganz und gar von ihr selbst erschaffen worden war. Darüber hinaus hatten die vertrauten Bewegungen, die sie einst auf dem Schoß ihrer Großmutter gelernt hatte, so etwas Beruhigendes an sich: reinstechen, durchziehen, abheben.

Wenn sie gestresst oder besorgt war, brauchte sie nur nach ihrem Strickbeutel zu greifen und die Nadeln in die Hand zu nehmen. Sobald sie sich im beruhigenden Rhythmus des Klick-klick-klick verlor, wurden ihre rasenden Gedanken langsamer, und die Anspannung fiel von ihr ab. Dann konnte ihre Fantasie die Flügel ausbreiten und fliegen, wohin auch immer sie wollte. Allerdings wurde ihre Anspannung, wie sie ein wenig kleinlaut dachte, ja oft von den anderen Mitgliedern des Strickzirkels hervorgerufen, vor allem wenn sie mal wieder eine Lasst-uns-Gerties-Liebesleben-regeln-Phase hatten.

„Was für ein neuer Mann?“, fragte Jean jetzt übereifrig.

Jeder Mann, der in ihrem kleinen Ort auftauchte, wurde ausgiebig diskutiert.

„Callum Frost ist zurück“, erklärte Marian selbstzufrieden. „Er hängt wieder am Flughafen rum.“

„Oh!“, sagte Jean zu Gertie. „Dann solltest du dich da auch mal blicken lassen. Aber kämm dir besser vorher die Haare.“

„Jetzt sei doch nicht dämlich, Mum!“, sagte Gertie.

Callum Frost war ein norwegischer Luftfahrtmagnat, dem – neben vielen anderen Dingen – auch die kleine Airline gehörte, die von Carso aus die Inseln ansteuerte. Nachdem die Firma im Sommer zuvor ein Flugzeug verloren hatte, hatte Frost sie, sehr zum Kummer der örtlichen Pilotin, Morag MacIntyre, übernommen. Im Prinzip arbeitete Morag – genau wie ihr Großvater, Murdo – für Callum Frost. Sie führte sich allerdings immer so auf, als wäre das gar nicht so, und Callum ließ sie weitestgehend gewähren.

„Was soll ich denn am Flughafen?“

„Du könntest ein Flugzeug nehmen“, sagte Jean.

„Und wohin, etwa auf die Inseln?“, erwiderte Gertie. „An Orte, an denen es noch weniger zu tun gibt als hier?“

„Oder nach Glasgow!“

„Mach ich, Mum“, antwortete Gertie, weil sie wusste, dass sie ihre Mutter damit am schnellsten zum Schweigen bringen würde.

Tatsächlich meldete sich jetzt Majabeen zu Wort und begann mit einer langen, komplizierten Geschichte über irgendwelche Stipendien. So konnte Gertie zum Klang der klappernden Stricknadeln ins Feuer starren und sich in Gedanken verlieren …

Es wäre doch schön, jemanden zu haben, für den sie gemütliche Strümpfe stricken könnte – einfach schöne große Strümpfe ohne Schnickschnack; so ein Paar geräumige Strümpfe war doch nett. Sie träumte von jemandem – konnte sein Gesicht aber noch nicht genau erkennen. Es brauchte niemand Superschickes zu sein, schließlich war sie auch nicht so schick. Einfach nur jemand, der nett war, der jeden Abend aus der Kälte in ihr warmes Häuschen kommen würde – ah, nein, das nicht! In diesem Häuschen würde sie dann bestimmt nicht mehr wohnen. Okay, na ja, vielleicht in einem anderen Häuschen, aber einem nur für sie beide, mit einer besseren Aufteilung und einem von diesen tollen Wintergärten, den viele Leute nach hinten hinaus hatten anbauen lassen. Dorthin kehrte er nach einem kalten Tag zurück, an dem der Wind an ihm gezerrt hatte. In einem Topf wartete eine schöne Hühnersuppe mit Lauch auf ihn, und er freute sich so, sie zu sehen und wieder zu Hause zu sein, umarmte sie am Herd von hinten und sagte: „Ganz ehrlich, ich wüsste nicht, was ich heute ohne diese Mütze gemacht hätte.“ Sie konnte die kalte Luft spüren, die ihn umgab, und drehte sich zu ihm um, um ihn willkommen zu heißen …

Gertie fand, dass das eigentlich nicht zu viel verlangt war, aber es schien meilenweit von ihrer Realität entfernt zu sein.

Eine dramatische Familiensaga vor der stimmungsvollen Kulisse der Nordseeküste

Blick ins Buch
Der Nordseehof – Als wir träumen durftenDer Nordseehof – Als wir träumen durften

Roman

„Wir müssen nach vorn sehen. Da liegt die Zukunft.“
In diesem ersten Band ihrer Saga um den ostfriesischen Nordseehof erzählt Regine Kölpin – spannend, bewegend und voller norddeutscher Atmosphäre – den Beginn einer dramatischen Emanzipationsgeschichte um drei Frauen aus drei Generationen.  

Ostfriesland, 1948: Johanna, Tochter eines Großbauern, verliebt sich in den Schlesien-Flüchtling Rolf – eine Liebe, die keine Zukunft hat, denn Johanna ist bereits dem wohlhabenden Hoferben Eike versprochen. Doch die beiden hören nicht auf zu träumen – von dem Glück der Heimat, der Wärme einer Familie und ihrer gemeinsamen Zukunft.

Der Nordseehof: Vor der stimmungsvollen Kulisse der norddeutschen Landschaft entfaltet sich eine opulente Familiensaga über die Macht der Träume und den Wunsch nach Freiheit, über verbotene Liebe und wahre Heimat.  

Band 1: Der Nordseehof – Als wir träumen durften
Band 2: Der Nordseehof – Als wir der Freiheit nahe waren
Band 3: Der Nordseehof – Als wir den Himmel erobern konnten

1948–1949


Kapitel 1

Das Unwetter war abgezogen, hatte die Luft gereinigt, und die verbliebenen wenigen Wolken sahen aus wie mit lässigen Strichen an den Himmel gewischt. Obwohl die Sonne an diesem Tag im Juni schien, war es ziemlich abgekühlt, sodass Johanna sich ein Wolltuch um die Schultern gelegt hatte. Nach dem Gewitter war es nötig gewesen, alle Kühe auf den Marschwiesen durchzuzählen und sich zu vergewissern, dass mit den Tieren alles in Ordnung war.

Kurz bevor Johanna zum Landwirtschaftsweg abbog, der zum Eilershof, dem Gehöft ihrer Eltern, führte blieb sie stehen, denn Rolf Menzel winkte zu ihr herüber. Er hatte gerade das Gatter der Schafweide verschlossen.

„Ist bei euch alles in Ordnung, Hanna?“, rief er, schob sich eine dunkle Strähne aus dem Gesicht und setzte die Schiebermütze wieder auf. „Das war aber ein Regen und ein Donnern! Ich habe eben nach den Tieren geschaut.“ Er stellte den Eimer neben dem Gatter ab und kam auf sie zu. Verlegen und ein wenig unbeholfen. Er fixierte sie mit seinem einzigartigen Blick. Genau das mochte Johanna an ihm. Sie hatte noch nie einen Menschen mit so schönen blauen Augen gesehen.

„Ja, danke!“ Johannas Stimme zitterte. Wie immer, wenn sie ihm nah war.

Rolf nahm die Schiebermütze wieder vom Kopf und drehte sie mit den Händen. „Hauptsache, alles ist heil geblieben“, sagte er schließlich mit seinem schlesischen Akzent.

Rolf war nach Ende des Zweiten Weltkriegs mit vielen anderen Flüchtlingen nach Ostfriesland gekommen und lebte seit einem Jahr auf dem Nordseehof, der großen Deichschäferei von Thilo und Lientje Deeken, die nicht weit vom Eilershof entfernt ebenfalls in der Marsch lag.

„Ein Fremder, aber fleißig“, sagte Lientje Deeken immer. „Kann man was mit anfangen. Ist ja nun wirklich nicht mit allen so.“

Johanna stieß es ab, wenn die Schäferin derart abfällig über die Vertriebenen redete. Und noch weniger mochte sie es, wenn sie solche Dinge über Rolf sagte.

„Mit eurem Vieh ist doch auch nichts passiert, oder?“, riss er Johanna aus ihren Gedanken. „Keine Kuh durch den Draht gegangen? Keine vom Blitz erschlagen?“

„N… nein, alles gut“, stotterte Johanna und begann, mit einer Schuhspitze über den Schotter zu scharren. Sie suchte krampfhaft nach einem unverfänglichen Thema.

„Bist du später bei der Friesen-Jugend?“, fragte Rolf.

Erleichtert sah sie ihn an. Dort hatten sie sich kennengelernt, zur Akkordeonmusik zum ersten Mal zusammen getanzt – und sich dabei ineinander verliebt. Seitdem schlichen sie umeinander herum wie eine Katze um einen Topf Sahne, die genau wusste, dass sie Schläge bekommen würde, wenn sie auch nur einen winzigen Tropfen davon kostete.

Johanna, die Tochter des Großbauern Eilers, und ein schlesischer Vertriebener. Ein Ding der Unmöglichkeit!

Johanna nickte rasch. „Ich versuche es.“ Um jeden Preis, setzte sie in Gedanken hinzu. Es war ihre einzige Chance, sich zu sehen, herumzuflachsen und ab und zu ein Wort miteinander zu wechseln. Auch wenn das andere Jungvolk aus Neusiel dabei war.

Rolf lächelte sie an. „Das ist schön, dort können wir bestimmt in Ruhe und ein bisschen länger reden, weil keine Arbeit ruft.“ Er fügte mit dunkler Stimme hinzu: „Allein.“

Johannas Herz klopfte wie verrückt. „Ja, gern.“

Rolf setzte sich die Mütze wieder auf den Kopf. „Ich muss dann mal, sonst bekomme ich Ärger mit dem alten Deeken. Bis später, Hanna.“

„Bis dann.“ Johanna mochte es, wie er ihren Namen abkürzte, und auch, wie er ihn aussprach. Rolf nahm am Gatter den Eimer wieder auf und setzte seinen Weg fort. Immer mit leicht gebeugter Haltung und zugleich mit einem Stolz, der ihn unangreifbar erscheinen ließ.

Johanna wartete, bis Rolf um die Wegbiegung verschwunden war, und lehnte sich dann an ein Weidegatter. Sie sog die klare Luft tief ein und schaute über die Marsch, deren Grünfläche sich scheinbar endlos dahinzog und erst am Meer oder am nächsten Geestrücken endete.

Heute strich der Wind heftiger über die Wiesen und ließ das Gras in Wellen tanzen. Johanna liebte die Weite der Landschaft, die nur hin und wieder von vereinzelten Hecken oder Bäumen durchbrochen wurde. Oder von den paar Höfen und Katen, die wie kleine rote Sprenkel im Grün der Marsch wirkten.

Johanna liebte auch den Wind, der in Ostfriesland sein stetiges Lied sang, und sie liebte das Schreien der Möwen, wenn sie sich in seinen Armen wiegten. Hier war sie zu Hause, hier gehörte sie hin. Das Dorf, die Leute, der Hof …

Johanna wusste, was Heimat bedeutete, und hatte mit denen, die ihre verlassen mussten, unendliches Mitleid.

Bis zum Mittagessen dauerte es noch eine Weile, und so konnte sie die Zeit hier draußen in der Natur ein wenig genießen. Es war ohnehin besser, nicht derart aufgewühlt zu Hause zu erscheinen, denn Johanna hatte keine Lust, unangenehme Fragen beantworten zu müssen.

Wie immer hatte Rolf sie arg durcheinandergebracht, und allein die Vorstellung, ihn später wiederzusehen, machte sie nervös. Ihre Hände zitterten, sie konnte sich einfach nicht gegen diese Gefühle wehren. „Du musst ihn dir aus dem Kopf schlagen“, sagte sie zu sich selbst, als sie sich wieder etwas beruhigt hatte. „Egal, ob nun die neue Zeit anbricht oder nicht. In Neusiel wird es noch ein wenig länger dauern, bis alle die Veränderungen akzeptiert haben.“

Die neue Zeit, in der jetzt, nach der Währungsreform, alles besser werden sollte. Davon sprachen alle. Die Welt hatte sich in den letzten Jahren mit einer Geschwindigkeit gedreht, die Johanna, nein, allen im Dorf fast Angst machte. Die Wunden des Krieges waren noch zu präsent, hatten auch auf dem Land ihre Spuren hinterlassen. Vor allem die Bombardierungen von Wilhelmshaven und die vereinzelten Stabbrandbomben, die zwar keine größeren Schäden angerichtet hatten, aber über Neusiel abgeworfen worden waren, hatten zu großer Verunsicherung geführt.

Dann waren nach dem Krieg unzählige Flüchtlinge aus dem Osten gekommen. Von den Behörden wurde angeordnet, dass die Menschen auf den Höfen und bei anderen Familien im Dorf untergebracht werden mussten. Jede Kammer wurde genutzt. Und nicht nur das: Die Menschen lebten auf Dachböden, in Stallungen und Kammern. Gefreut hatte es keinen, aber es nützte ja nichts, den Vertriebenen musste geholfen werden, und alle packten irgendwie mit an.

Viele gingen freundlich und hilfsbereit mit den Neuankömmlingen um, andere reagierten weniger positiv und redeten verächtlich über die Ostländer.

Obwohl es den Menschen hier während des Krieges noch recht gut gegangen war, vor allem den Bauern, hatte es ohne den Schwarzmarkt auch bei ihnen an vielen Dingen gefehlt, und nicht alle waren gut über die Runden gekommen. Und nun sollten sie das wenige auch noch mit den Fremden teilen. Etliche Familien auf dem Land waren Teilselbstversorger und hielten das ein oder andere Schwein, von denen so manches schwarzgeschlachtet worden war. Für alles andere hatte es Lebensmittelmarken gegeben.

Inzwischen hatte sich das Leben recht gut eingespielt, und Johanna war davon überzeugt, dass die Menschen nach und nach Teil der heimischen Bevölkerung werden würden. Spätestens, wenn sie endlich eigene Häuser und Wohnungen hätten und nicht mehr bei den Neusielern in den Häusern und auf den Höfen untergebracht waren. Nur würde das bestimmt noch eine Weile dauern. Trotz der neuen Zeit.
Seit einer Woche hatte sich mit der Währungsreform über Nacht allerdings viel verändert. Glaubte man den Neusielern, die in Oldenburg oder Wilhelmshaven gewesen waren, so waren die Lager in den Geschäften aufgefüllt, ja, diese brachen unter der Last des Angebots förmlich zusammen. Auch im Dorfladen war plötzlich alles zu haben.

Das Land wirkte wie befreit von einer festen Kette, deren Glieder noch vor ein paar Wochen unzerstörbar gewirkt hatten.

Johanna atmete einmal tief ein und aus.

Die Wunden heilten trotzdem nicht von heute auf morgen, und das Bedürfnis nach Sicherheit und festen Strukturen war nach wie vor das höchste Gebot. Ihre Eltern und viele andere im Dorf hielten deshalb weiter an ihren Traditionen fest und würden davon keinen Fingerbreit abweichen. Egal, ob das Herz ihrer einzigen Tochter für einen Vertriebenen aus Schlesien schneller schlug.

Wenn Keno da gewesen wäre, wäre die Lage gewiss anders. Er hätte sie verstanden, sie unterstützt … Johanna schluckte die aufkommenden Tränen hinunter, wie immer, wenn sie an ihren Bruder dachte. Sie hoffte wie ihre Eltern Tag für Tag, dass er noch lebte, denn Keno war nach dem Krieg bisher noch nicht zurückgekehrt. Er war 1943 bei der Schlacht vor Stalingrad dabei gewesen und entweder gefallen, oder er befand sich wie so viele andere in sowjetischer Gefangenschaft. Sie hatten seitdem kein Lebenszeichen mehr von ihm erhalten. Die Angst um den Erben war überall auf dem Eilershof spürbar. Lautes Lachen wurde augenblicklich verschluckt, und aus jeder Ecke kroch die unausgesprochene Trauer wie eine fette Spinne und wickelte die ganze Familie fest in ihren Kokon.

Mutter und Vater hatten natürlich alles darangesetzt, Keno zu finden, und durchforsteten ständig sämtliche Vermissten-Listen des Suchdienstes vom Roten Kreuz. Und jedes Mal, wenn die Suche wieder erfolglos war, legte sich eine weitere Schicht Schwermut über den Eilershof, sodass Johanna oft glaubte, darunter zu ersticken. Vielleicht wäre es gut gewesen, endlich Klarheit zu haben.

Johanna schob die Gedanken beiseite und ließ ihren Blick lieber noch etwas über das flache Land schweifen, genoss das Summen der Bienen und Hummeln und den Schrei des Bussards über ihr.

Es war nicht nur Kenos Abwesenheit, auch ihr Vater war nach seiner Rückkehr aus Frankreich verändert.

Er war still geworden. Schlich tagsüber wie ein Schatten über den Hof, gab mechanisch seine Anweisungen und zog sich zurück, sobald er konnte. Einzig wenn er mit den anderen Männern aus dem Dorf oder den Nachbarhöfen über die politische Lage sprechen konnte, taute er kurzzeitig auf, um sich danach noch mehr zurückzuziehen. Johanna verstand ihren Vater oft nicht.

Mitten in der Nacht aber schrie er, weil ihn böse Träume quälten. Zudem hatte ihr Vater den „komischen Blick“, wie Johanna ihn nannte – alle Heimkehrer im Dorf schauten anfangs so. Die Augen wirkten wie tot, und sah man hinein, erkannte man das Dunkel der Seele. Was auch immer die Männer in diesem vermaledeiten Krieg erlebt hatten: Danach war mit ihnen eine Veränderung vorgegangen, die Angst machte. Keiner sprach über seine Erlebnisse. Aber diese Leere im Blick spiegelte deutlicher als jedes Wort wider, dass die Seelen der Männer zerstückelt worden waren. Zerhackt von Erlebnissen, die zu grausam waren, als dass man sie je aussprechen durfte.

Ob die Heimkehrer je wieder die Alten wurden, konnte keiner sagen. Wo die Söhne und Ehemänner noch nicht nach Hause gekommen waren, hoffte einfach jeder, dass sie überhaupt zurückkehrten. Gleichgültig, in welcher Verfassung.

Ihre Mutter sagte, irgendwann würde Vater vergessen können. Und da er auch bessere Tage und Nächte hatte, gab Johanna die Hoffnung nicht auf, dass sie recht hatte.

„Wenn Keno zurückkommt, wird alles gut“ – auch das sagte ihre Mutter Tag für Tag. Was sein würde, wenn es nicht so wäre, wurde totgeschwiegen. „Bis dahin belastest du deinen Vater nicht und bist eine gute und folgsame Tochter. Dann wird es schon werden.“

Rolf Menzel zu lieben, sich gar mit ihm einzulassen und auf dieser Liebe zu bestehen, war da sicher keine gute Idee. Ihr Vater brauchte die alten Strukturen, um gesund zu werden. Und Johanna wollte nicht schuld sein, wenn er seine trüben Gedanken nicht loswurde.

Sie seufzte so laut, dass einer der Schafböcke sie erstaunt anblickte. „Guck du nur!“ Johanna lachte auf. „Deine Frauen grasen alle am Deich des Jadebusens, und du hast keinen Kummer mit der Liebe!“ Der Bock gab einen kurzen Ton von sich und fraß weiter.

Johanna schrak zusammen, als die Glocke der Kirche in Neusiel zwölfmal schlug. Wenn sie sich jetzt nicht beeilte, kam sie zu spät zum Mittagessen. Das würde ihre Mutter verärgern, und dann könnte sie ihr vielleicht verbieten, heute Nachmittag zur der Friesen-Jugend zu gehen. Johanna umfasste ihr Tuch und sputete sich.

Kapitel 2

Schon wenige Minuten später war sie am Hofeingang angekommen. Vor ihr lag der Gulfhof ihrer Eltern.

Das Wohnhaus klebte wie eine Nase vorn rechts am breiteren Scheunen- und Stalltrakt. In der angrenzenden Scheune befand sich unten die große Diele, wo auch das Korn gedroschen wurde, und am Ende des Ganges das Plumpsklo. In einem weiteren Raum lagerten Futtervorräte. Von der Diele aus gelangte man in die rechts und links abgetrennten Kuhställe.

Oben auf der Tenne stapelten sich Heu und Stroh.

Als Johanna näher trat, glänzte das große grüne Scheunentor an der Giebelseite in der Sonne. Der Eilershof verfügte auch über Nebengelasse wie die geschlossene Remise, in der die Kutschen und Gerätschaften untergestellt waren. In einem Stalltrakt war Platz für die zehn Kutsch- und Arbeitspferde.

Im hinteren Teil des Hofes gab es ein paar Schweinekoben mit Auslauf. Der Obstgarten schloss sich der Scheune an, dort war auch der Hühnerstall zu finden.

Links vom Eilershof ging ein Weg zu einem kleinen Haus ab, das einmal das Altenteil der Eltern werden sollte.

Die Hühner stoben gackernd auseinander, als Johanna über das rot geklinkerte Pflaster des Hofes rannte. Ihre Mutter schaute ihr schon ungeduldig aus der Haustür entgegen. Sie hatte einen derben Leinenrock mit einer Strickjacke an, und ihr aschblodes Haar war zu einem Kranz geflochten. „Johanna!“, rief sie. „Was träumst du herum? Wir wollen essen!“

„Ich beeile mich!“ Sie hastete in die Waschküche, wusch sich dort die Hände und stand kurz darauf in der Küche, wo auf dem weißen Ofen in einem großen Topf eine Hühnersuppe blubberte. Ihre Mutter hatte gestern zwei der Hennen geschlachtet.

Der rechteckige, grobe Holztisch war für vier Leute gedeckt. Ihre Mutter stellte Kenos Teller täglich mit dazu. Schließlich konnte er jederzeit überraschend zurückkehren und sollte sich dann sofort zu Hause fühlen. Immer diese Hoffnung. Diese grausame, verratene Hoffnung.

„Füllst du bitte etwas von der Suppe um, und bringst es nach nebenan?“ Ihre Mutter sagte immer nebenan und nicht Diele. Sie zeigte auf einen schwarzen Emailletopf, der erheblich kleiner als der andere war.

Johanna nickte. Das Essen, das sie nach nebenan auf die Diele bringen sollte, war für die anderen, wie ihre Mutter sich ebenfalls stets ausdrückte, ohne auch sie genau zu benennen. Vielleicht fühlte sie sich dann besser.

Die anderen waren das Gesinde und die bei ihnen untergebrachte Flüchtlingsfamilie. Dem Eilershof war eine Frau mit zwei Kindern zugewiesen worden. Martha Selig und ihre beiden fünf- und siebenjährigen Jungs waren ruhige Mitbewohner. Frau Selig versuchte, so gut es mit den Kindern eben ging, auf dem Hof mitzuhelfen.

Die Unterkunft der Familie befand sich in der Achterkök, einem Anbau hinter der eigentlichen Hofküche. Johannas Mutter hatte sie notdürftig hergerichtet. Es war zwar eng, aber Frau Selig verfügte so über eine kleine Küche mit Brennhexe, eine Bank, einen Tisch mit Stühlen und einen alten, zerschlissenen Sessel. Hinter einem notdürftigen Vorhang aus alten Bettlaken standen zwei Feldbetten, die sie sich zu dritt teilten. Wasser bekamen sie aus der Pumpe. Es war leider sehr eisenhaltig, zum Teekochen taugte es ebenso wenig wie zum Wäschewaschen. Für richtig gutes Wasser mussten alle zum Brunnen hinter dem Feld laufen. Das Mittagsmahl brauchte Martha Selig aber nicht selbst zubereiten, das wurde stets von Johannas Mutter in der großen Hofküche für sie mitgekocht. „Den Rest bekommt Frau Selig dann schon hin“, sagte sie immer.

Nur mochte sie es nicht, Fremde am Tisch sitzen zu haben, weshalb die anderen eben in der Diele essen mussten.

Johanna bemerkte, dass ihre Mutter sie mit kritischem Blick ansah, als sie den Topf mit einer großen Schöpfkelle füllte. „Du wirkst noch immer völlig verschwitzt.“

„Der Weg war weit“, erwiderte Johanna ausweichend. „Ich habe alle Weiden kontrolliert, mit dem Vieh ist alles in Ordnung.“ Sie nahm den Topf und brachte ihn in die Diele, wo die beiden Mägde, die Knechte und Frau Selig mit ihren Kindern schon sehnsüchtig warteten. Frisches Brot und Butter hatte ihre Mutter bereits hingestellt.

Jetzt im Sommer war es still hier. Im Winter konnte man durch die Wände die Kühe in dem dahinterliegenden Stall rumoren hören.

Johannas Eltern saßen mit gefalteten Händen am Tisch, als sie zurückkam. Kenos leerer Platz wirkte wie immer bedrückend, und Johanna mied den Blick dorthin.

Sie lauschte dem Gebet des Vaters und wartete dann, bis ihre Eltern sich von der Suppe genommen hatten, bevor sie sich selbst einen Teller auftat. Der salzige Duft der Brühe zog durch ihre Nase, und sie merkte, wie hungrig sie nach dem langen Weg durch die Marsch war.

„Morgen gehen wir zum Tee zu den Deekens“, sagte ihre Mutter unvermittelt und, wie Johanna fand, eine Spur zu beiläufig. Sie schob ihrer Tochter den Brotkorb rüber. Dabei zitterten ihre Finger ein wenig.

Johanna starrte in die Fettaugen der Suppe und schob mit dem Löffel ein Stück Hühnerhaut beiseite. Sie ahnte, was der Besuch in der Deichschäferei bedeutete.

Ihre Mutter bestätigte ihre Befürchtung, als sie hinzufügte: „Eike wird auch da sein. Der Jung hat sich ja wieder gefangen. Hat lange genug gedauert. Nun müssen wir, wo das auch mit der D-Mark angelaufen ist, so langsam wieder an die Zukunft denken. An deine Zukunft!“

Johanna schluckte.

„Wie meinst du das?“

Ihre Mutter lächelte versonnen. „So, wie ich es sage. Denk mal nach. Du und Eike, wäre das nicht schön? Ihr kennt euch schon so lange. Du hättest ausgesorgt. Und Vadder wäre wirklich glücklich.“ Sie sah zu ihrem Mann, der unmerklich nickte, aber weiter schweigend seine Suppe aß.

Johanna umklammerte den Löffel so fest, dass er ihre Hand fast einschnitt. Sie wollten sie also wirklich mit Eike, dem Erben vom Nordseehof, verkuppeln. Sie hatte schon lange damit gerechnet. Sie und Eike, ihr Kinderfreund. Inzwischen hatten sie sich aber aus den Augen verloren, und auch er war nach dem Krieg ein anderer geworden.

Johanna wusste nur, dass er irgendwo in Afrika und anderswo gekämpft hatte und wie ihr Vater völlig verändert zurückgekommen war. Es gab den alten Spielkameraden von früher nicht mehr. Eike war in den ersten Monaten nach seiner Heimkehr stundenlang mit gesenktem Kopf durch die Marsch spaziert und hatte nicht mal ein „Moin“ für seine Nachbarn übriggehabt. „Der wird schon wieder“, hieß es dennoch.

Und er wurde wieder, denn mittlerweile grüßte Eike die Nachbarn, und er legte auch Hand auf dem Hof an. Aber er lachte kaum, und wenn, wirkte es nicht echt.

„Der Jung kann ja man froh sein, dass er nicht in Gefangenschaft geraten ist wie unser Keno“, sagte Johannas Mutter nun. „Und man muss schließlich nach vorn sehen. Nie aufgeben, weißt du? Immer den nächsten Schritt machen.“ Sie klang sehr zufrieden. „Nun sach du doch auch mal was, Marten!“

Johannas Vater nickte nur. „Jo“, kam es schließlich mit einem versuchten Lächeln.

Als seine Frau die Brauen hochzog und ihn noch einmal eindringlich ansah, wählte er langsam und bedächtig seine Worte: „Foline, also deine Mutter, hat recht. Eike ist eine gute Partie für dich, mien Deern.“ Er tätschelte Johannas Hand. „Dir soll es ja mal besser gehen. Kein Krieg mehr, keine Angst und keine unnützen Toten. Alles in Butter. Überleg es dir, du würdest uns mit dieser Verbindung eine große Freude machen. Und für dich wäre es eine gute Absicherung!“ Er tauchte den Löffel wieder in die Suppe und schlürfte sie ab. „Thilo Deeken findet die Idee, dass ihr heiratet, genauso gut wie ich, und Lientje wird sich schon fügen und sich an den Gedanken gewöhnen. Dieses eine Mal hat sie keine Wahl.“ Ihr Vater nahm sich Suppe nach. „Am liebsten würde sie Reent den Hof geben, aber das ist nun mal ausgeschlossen, er ist der jüngere Sohn. Also braucht Eike eine Frau, damit das alles seinen Weg geht.“ Er atmete tief ein, denn das war für ihn eine übermäßig lange Rede gewesen.

„Siehst du! Dein Vater würde sich freuen. Genau wie ich.“ Ihre Mutter lächelte. „Bei Eike passt alles. Du kennst ihn seit deiner Kindheit, er ist ein guter Mensch.“ Sie bemerkte Johannas skeptischen Blick und fügte hastig hinzu: „Herzklopfen ist keine Basis für ein ganzes Leben – und muss es auch nicht sein. Die Liebe kommt von allein, wenn man sich erst aneinander gewöhnt hat.“

Johanna war der Appetit vergangen. Sie legte den Löffel weg, starrte auf den Teller und schwieg. Was sollte sie auch erwidern? Sie wusste keinen Weg, wie sie ihren Eltern diesen Wunsch abschlagen sollte, ohne sich mit ihnen zu überwerfen. Trotzdem ging es doch um sie!

Der Nordseehof war ein zwar imposantes, aber auch düsteres Gebäude, und Eikes Eltern waren keine herzlichen Menschen, vor allem Lientje Deeken war eine unangenehme Frau. Zudem war Johanna Eikes jüngerer Bruder Reent suspekt. Sie konnte ihn nicht einordnen. Nach außen hin wirkte er freundlich, aber da lag etwas in seinem Blick, was Johanna nicht mochte. Es erinnerte sie an eine ihrer Katzen, die schnurrend auf alle Besucher zukam, ihnen dann aber ohne Warnung die Krallen in die Hand hieb.

Woher Eike sein freundliches Gemüt hatte, wusste Johanna nicht. Vielleicht war Thilo Deeken ein umgänglicher Mann, nur tat der es ihrem Vater gleich und sprach nur dann, wenn ihn etwas wirklich interessierte.

Weil Johanna immer noch schwieg, plauderte ihre Mutter munter weiter. Jede Silbe aber erschien Johanna wie ein winziger Nadelstich.

„Wenn Keno erst aus dem Krieg zurück ist, kann der unseren Hof übernehmen. Du hast dann ein neues Zuhause und eine Aufgabe. Das wünscht man sich in diesen Zeiten für seine Kinder! Absicherung.“ Es klang, als wäre alles längst beschlossene Sache. „Von uns kriegst du eine Kuh, das unterschreibst du, und damit ist das mit dem Erbe geklärt. So wird es seit Generationen gemacht, das weißt du.“

Jetzt sah Johanna von ihrem Teller auf. Sie wollte ihren Eltern klarmachen, dass sie Eike nicht heiraten konnte. Dass sie Rolf Menzel mochte. Aber ihr blieben die Worte im Hals stecken. Nein, das konnte sie ihren Eltern nicht sagen. Es wäre bestimmt gut, erst einmal den Mund zu halten und mitzuspielen.

„Mach dich morgen ein bisschen hübsch. Wie sich das gehört.“

Johanna schluckte. „Ja.“ Sie hegte noch den Funken Hoffnung, dass Eike sie vielleicht gar nicht wollte. Johanna fand selbst, dass sie keine Schönheit war. Sie hatte langes, leicht gewelltes aschblondes Haar, das sie meist unter einem Kopftuch zu einem Dutt zusammenband. Manchmal zog sie es auch vor, alles sorgsam zu flechten und zurückzustecken. Ihren Po fand sie eine Spur zu breit, die Schenkel zu dick. Es gab hübschere Mädchen im heiratsfähigen Alter. Und die Männer waren in der Unterzahl und konnten wählen.

„Was hast du heute noch vor?“, fragte ihre Mutter jetzt. „Der erste Heuschnitt ist eingefahren, wir haben ein bisschen Luft, bevor die Getreideernte beginnt.“

„Ich möchte mal wieder zur Friesen-Jugend. Die anderen sind aus dem Zeltlager in Upschört zurück. Mal sehen, was sie erzählen. Es waren nicht alle mit, aber ich habe gehört, dass es lustig gewesen ist.“

Johanna war auch nicht mitgefahren, weil Rolf auf dem Nordseehof arbeiten musste und sie ohne ihn keine Lust gehabt hatte. So konnten sie sich zumindest zwischendurch mal von Weitem sehen. Warum sollte sie im Zeltlager mit einem anderen tanzen, wenn ihr Herz bereits vergeben war?

Außerdem war auf dem Hof wegen der Heuernte eine Menge zu tun gewesen, weil das Gras vor dem Regen in die Scheune gebracht werden musste. Sie hatten es gerade noch geschafft. Manchmal beneidete sie die jungen Menschen in der Friesen-Jugend, deren Eltern keine Landwirtschaft hatten und die deshalb an viel mehr Aktivitäten teilnehmen konnten.

„Langsam bist du mit deinen zwanzig Jahren für die Friesen-Jugend eigentlich zu alt“, sagte ihre Mutter. „Aber gut, dann geh hin. Die Briten wollen es ja nicht anders mit ihrer demokratischen Umerziehung. Als ob wir das nicht selbst hinkriegen könnten.“

Johanna mochte die Treffen der Friesen-Jugend, weil sie eine Abwechslung zum anstrengenden Hofalltag darstellten. Unter Aufsicht der Britischen Militärregierung hatte sich dieser Jugendbund aus der Gruppe „Waterkant“ gebildet. Die Besatzer legten Wert darauf, dass die jungen Menschen etwas über Demokratie lernten und auch, wie die Eingliederung der Vertriebenen unterstützt werden konnte. In Deutschland sollte ein anderer Wind wehen als während der Jahre des Faschismus. Und da wollten sie bei der Jugend beginnen. Deshalb waren alle im Dorf angehalten, den jungen Leuten keine Steine in den Weg zu legen, wenn sie sich treffen wollten.

Es war eine bunt gemischte Gruppe, die keine Unterschiede zwischen Einheimischen und Fremden machte. Dort herrschte Lockerheit. Lebendigkeit. Das Stück Freiheit, das ihnen abhandengekommen war und ihnen auch jetzt zu Hause oft fehlte. Bei der Friesen-Jugend durfte man unbeschwert lachen und fröhlich sein. Beides war dort ehrlicher als anderswo. Sie machten außerdem viel Musik, sangen und tanzten Volkstänze. Ja, Johanna war nicht mehr jugendlich, aber auch noch nicht volljährig.

Mittlerweile hatte sie die Suppe doch aufgegessen und wartete, bis auch die Eltern so weit waren. Dann stand sie auf und verabschiedete sich höflich. Sie wollte in ihr Zimmer gehen und sich ein wenig frisch machen.

In der Waschkumme befand sich noch ein Rest Wasser vom Morgen, und in der Schublade hatte sie ein kleines Stück Lavendelseife versteckt. Sie wollte gut riechen, wenn sie Rolf gegenüberstand.

Johanna schlüpfte aus dem derben Leinenrock und der Bluse, wusch sich gründlich, putzte die Zähne und suchte aus dem schweren Eichenschrank ihr Sommerkleid mit den halblangen Armen heraus. Es war aus dunkelgrünem, leichtem Stoff, auf dem sich ein paar rosafarbene Blumen verteilten. Vorn geknöpft umschmeichelte es Johannas Oberkörper, von der Hüfte an war es leicht ausgestellt und umspielte ihre Waden.

Als sie das Kleid angezogen hatte, nahm sie sich die Haare vor. Es dauerte, ehe sie die ausgebürstet hatte.

Johanna entschied sich für einen geflochtenen Zopf, den sie nach vorn über die Schulter legen konnte. Die Kühle vom Morgen hatte sich verflüchtigt, und der Wind war abgeflaut, sodass sie auf ihr Schultertuch verzichten konnte.

Als sie fertig war, blieb ihr noch eine volle Stunde, die sich endlos vor ihr ausdehnte. Johanna legte sich aufs Bett.

In der Ruhe war es allerdings schwer, die dunklen Gedanken zu vertreiben. Also richtete sie sich wieder auf und trat ans Fenster.

Morgen würde sie zu Eike auf den Nordseehof gehen müssen. Aber heute war heute. Und gleich würde sie erst einmal Rolf treffen.

Cosy Crime und Nordsee-Atmosphäre pur

„Die Nordsee ist die Landschaft meiner Seele. Nirgendwo lässt sich besser träumen,...“

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Das alte Hotel an der NordseeküsteDas alte Hotel an der Nordseeküste

»Die Nordsee ist die Landschaft meiner Seele. Nirgendwo lässt sich besser träumen, streiten oder lieben als in ihrer unmittelbaren Nähe.«

Eigentlich hat Isabell, 32, geschiedene Mutter von zwei Kindern, fast nur schlechte Erinnerungen an ihre Kindheit an der deutschen Nordseeküste. Und auch mit der Liebe hat sie nach ihrer Scheidung und einer heftigen Enttäuschung abgeschlossen. Doch als ihr Vater stirbt und sie gemeinsam mit ihrer Schwester das alte Familienhotel erbt, zögert Isabell trotz allem keine Sekunde, ihr ruhiges Leben in Bozen gegen zu erwartenden Streit und drohende Feindseligkeiten in der alten Heimat einzutauschen.

Schließlich ist es ihr Kindheitstraum, den Ballsaal des Hotels endlich wieder zum Leben zu erwecken. Dumm nur, dass ihre Schwester bereits beschlossen hat, aus dem gemeinsamen Erbe ein Tagungshotel zu machen. Und dass der neue Freund ihrer Schwester ausgerechnet Isabells einstige große Liebe ist. Doch Isabell gibt die Hoffnung nicht auf, dass über verschlungene Wildrosenpfade alles irgendwie noch gut werden kann…

Ein herrlich romantischer Roman um eine Frau, ihre Vergangenheit und einen traumhaften Ballsaal.

  • Für alle Leser*innen von Jenny Colgan und Sontje Beerman
  • Erschien bereits 2018 unter dem Titel „Die Wahrheit über Wildrosen“
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Eine Liebesgeschichte wie ein Sommertag am Meer

Blick ins Buch
Die kleine Hundepension an der KüsteDie kleine Hundepension an der Küste

Ein Ostsee-Roman

Von Chaos, Glück und einem Neuanfang auf vielen Pfoten. Romantisch-witziger Sommerroman für Fans von Sophie Kinsella und Meike Werkmeister 

„Sein Gesicht nähert sich meinem und mein Herz pocht wie wild an meine Brust. Unsere Lippen berühren sich sanft … In einem sich äußert realistisch anfühlenden Déjà-vu prallt die gesamte Hundepower von Ouzo in mich hinein.“ 

Job weg, Perspektive weg: Notgedrungen krempelt Jennifer ihr Leben um und wagt einen Neuanfang an der Ostsee. Dass sie hier kurzentschlossen eine Hundepension aufbaut, hatte sie dabei selbst nicht erwartet. Zwar hat sie wenig Ahnung von Hunden, aber wie schwer kann das schon sein? Ziemlich schwer, wie sie feststellen muss. Aber das braucht der süße Amerikaner Nick mit seinem herausfordernden Hund Ouzo nicht unbedingt zu wissen … Schon bald bringt der Vierbeiner Jennifers Pension ganz schön durcheinander, während sein Herrchen dasselbe mit ihrem Herzen tut. 

Kapitel 1

Kann man eine versendete Mail löschen?

Wo finde ich einen guten Hacker?

Wie melde ich mich arbeitslos?

Verdammt, verdammt, verdammt!

Ich habe es versaut. Wenn selbst Google mir nicht weiterhilft, muss es ernst sein. Tief durchatmen. Krisen bin ich gewöhnt. Wobei das nie meine eigenen sind, sondern die meiner Klienten. Okay, ich darf kein großes Aufsehen erregen. Diesen Fehler muss ich diskret und schnell ausbügeln, bevor Oliver das rausbekommt.

„Geht’s dir nicht gut?“, fragt Daniel mich. „Du siehst blass aus.“

Noch ehe ich reagiere, springt Tabea von ihrem Bürostuhl auf und ihre vielen Armreifen fangen zu klackern an. „Soll das eine Anspielung sein, dass sie heute kein Make-up trägt? Dass alle Frauen hässlich sind, die sich für einen natürlichen Look und entgegen dieser gesellschaftlich auferlegten Konvention entscheiden, sich Tonnen von Farben ins Gesicht zu klatschen? Möchtest du das wirklich sagen?“

Ihre schrille Stimme schallt durch das Büro und erreicht selbst Tim, den neuen Praktikanten, der seine Kopfhörer aus den Ohren zieht.

Das war’s mit dem Kein-Aufsehen-Erregen.

„Nein!“ Daniel steht mit hoch erhobenen Händen auf, als hätte Tabea ihm eine Knarre vors Gesicht gehalten. „Um Himmels willen, nein! Das wollte ich nicht sagen.“

Sie mustert ihn abschätzig. „Frauen tragen Make-up für sich und nicht für die Blicke von Männern. Und wenn Jennifer sich heute dagegen entschieden hat, ist das allein ihre Entscheidung.“

„Ich trage Make-up“, werfe ich ein.

„Ich wollte nur sichergehen, dass es ihr gut geht und ihr meine Hilfe anbieten, falls es nicht der Fall sein sollte.“ Daniels Wangen färben sich in ein tiefes Rot. Jetzt wünscht er sich wahrscheinlich doch, die Abteilung vor einem Monat gewechselt zu haben, als es ihm angeboten wurde.

„Natürlich.“ Tabeas Augen blitzen hinter ihrer übergroßen Brille angriffslustig hervor. Unter den Blicken der Redaktion zieht sich der sonst so entschlossen wirkende Daniel stammelnd in die Küche zurück.

Ich nutze die Gunst der Stunde, wo keiner mich mehr beachtet und schleiche mich in den Meetingraum hinter meinem Schreibtisch, den wir nur für unsere Abteilungstreffen oder Kundenpräsentationen nutzen. Die Luft steht träge im Raum und ich reiße das Fenster auf, um einen tiefen Atemzug aus Smog, Frittengeruch und Schweiß zu nehmen.

Schweiß? Automatisch fasse ich unter meine Achseln und wünschte, es nicht getan zu haben. Iih, alles nass. Ich muss mich zusammenreißen. Wie schlimm kann es schon sein? Wahrscheinlich halb so wild.

Entschlossen zücke ich mein Handy und wähle fast lässig Jonas Nummer. Nach dem zweiten Klingeln nimmt er ab. „Rheinische Post Düsseldorf, Jonas Stegner …“

„Hast du meine Mail schon gelesen?“

Hoppla, das klingt nicht mehr so lässig.

„Jennifer Ahrns.“ Ich kann sein Grinsen förmlich hören. „Dir auch hallo. Wie du weißt, bin ich ein vielbeschäftigter Mensch und deswegen noch nicht dazu gekommen …“

„Nimm die Füße vom Papierkorb und guck in dein Postfach.“

„Woher weißt du, dass ich …? Wie auch immer. Warte …“

Stille. Das Klicken der Maus, Tippgeräusche auf der Tastatur. Stille.

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Wie ein Tiger im Käfig fange ich an, im langen Meetingraum auf- und abzuwandern. Das Klackern meiner Absätze macht mich noch wahnsinnig, aber stehen bleiben ist auch keine Option. Wie lange braucht ein Mensch, um eine Mail zu lesen? Oder sind Sekunden schon immer so langsam vergangen?

„Und?“, platzt es aus mir heraus, bevor ich den Verstand verliere.

„Ja“, setzt er vage an. „Das ist … verdammt übel.“

Was nicht mehr so vage ist.

Der letzte Funke Hoffnung in mir erlischt. Ich umklammere gewaltsam mein Handy, versuche, mich darauf zu besinnen, was ich hier bei Sturmstopper vom ersten Tag gelernt habe: cool bleiben, hoch pokern, gewinnen.

Ich wähle als Fixpunkt ausgerechnet das hässliche Bild an der Wand mir gegenüber, das mich immer an den Versuch eines Dreijährigen erinnert, einen Orang-Utan auf einem Segelboot zu malen. Es hilft, um meinen Atem wieder unter Kontrolle zu bringen. „Kannst du die Mail löschen?“

Jonas reguliert seine Emotionen nicht ganz so gut und prustet los, was wie Husten und Lachen gleichzeitig klingt. „Von allen Rechnern aus deinem Journalistenverteiler? Eher unwahrscheinlich.“

Meine Hand fängt wild zu gestikulieren an. „Ich könnte sagen, dass der Text ironisch gemeint ist. Ein Aprilscherz. Er soll die Leute zum Lachen bringen. Menschen lachen gern.“

„Wir haben Anfang Juni.“

Genervt stöhne ich auf. „Logische Argumente helfen mir nicht weiter, falls du es nicht bemerkt hast.“

Aus der Leitung ertönt Menschengemurmel im Hintergrund. Ich höre eine Frau schrill lachen und sofort entwickle ich die Paranoia, dass sie mich damit meint. Jonas senkt seine Stimme und klingt viel dumpfer, als halte er seine Hand an den Lautsprecher. „Jetzt mal ganz im Ernst: Was hat dich geritten, so was zu schreiben? Das kann man sich in deinem Job vielleicht denken und dann genau das Gegenteil behaupten, aber nicht andersherum.“

„Ich weiß, ich weiß, ich weiß!“ Ich schlage im Takt mit meinem Kopf gegen die Wand und komme mir wie eine Comicfigur vor.

All die Jahre, all die Überstunden, all die Arbeit bei der besten Agentur für Krisenkommunikation. Alles für die Katz. Wie eine kleine Göre stampfe ich wütend auf dem Boden auf und unterdrücke den Drang zu schreien.

„Ich störe deinen Nervenzusammenbruch wirklich ungern, aber stimmt es?“, hakt Jonas vorsichtig nach. „Ist Carter&Connor ein, und ich zitiere, Pharmakonzern, der mehr nach Geld lechzt als eine Prostituierte in der Rethelstraße, bevor die Großbordelle in Düsseldorf Champagner gegen billigen Sekt tauschten?“

Eine Hitzewallung nach der anderen durchströmt mich. Mit dem leichten Stoff meiner Bluse wedle ich mir verzweifelt Luft zu, aber es kommt in diesem stickigen Raum nicht mal ein Lüftchen zu mir an. „Damit kritisiere ich mehr die Kommerzialisierung von Prostitutionsstätten als unsere Kundinnen und Kunden.“

„Und was ist mit dem Absatz, wo du schreibst, dass Carter&Corner Trump den Titel ›Herr der Lügen‹ bereits mit ihrem ersten Twitter-Beitrag streitig machen? Kritisierst du da nur das amerikanische Wahlsystem? Oder wie möchtest du dich da rausreden?“

Ich stocke in meiner Bewegung. „Meinst du, damit käme ich als Begründung durch?“

„Nein!“ Am anderen Ende der Leitung höre ich ein schweres Seufzen. „Verdammt, Jennifer. Egal, wie sehr mir dein Schreibstil gefällt, aber das bekommst selbst du nicht mehr zurechtgebogen. Hast du die Mail als eine Art therapeutischen Stressausgleich verfasst? An wen wolltest du sie schicken?“

„An Anna“, gebe ich kleinlaut zu.

„Vielleicht solltest du deinen Arbeitslaptop nicht für Privatgespräche mit deiner Freundin nutzen. Egal, wie scharf sie ist.“

Den letzten Teil überhöre ich. „Danke, das weiß ich auch. Hilf mir lieber!“ Ich presse das Telefon an mein Ohr, aber am liebsten würde ich es mitsamt meiner Mail aus dem Fenster werfen.

„Kann ich nicht.“ Jonas zögert kurz. „Und auf die Gefahr hin, dass du mich tötest: Ich muss darüber schreiben. Bevor es die hundert anderen Journalisten tun. Die Story ist zu gut.“

Mein Puls schnellt in die Höhe, mein Kreislauf verabschiedet sich. Sterne tanzen vor meinen Augen und ich lehne mich an die Fensterbank. Meine Stimme klingt weiterhin ruhig. „Es gibt keinerlei Beweise für diese Aussagen.“

„Wirklich nicht?“

„Kein Kommentar.“

„Dafür ist es zu spät, Liebes. Spätestens, nachdem du Kim das geschickt hast. Wusstest du, dass sie seit zwei Wochen bei der BILD arbeitet?“

Just in dem Moment klopft es an der Tür und ich lege reflexartig auf. Oliver tritt mit seinem gewohnt geschäftsmäßigen Gesichtsausdruck ein, den es zu seiner Beförderung als Abteilungsleiter inklusive gab. „Brauchst du den Raum gerade?“

Ich schüttle nur den Kopf, weil ich meiner Stimme nicht traue.

Er schließt die Tür hinter sich. „Gut, denn gleich kommt noch eine potenziell neue Kundin. Wenn wir das Unternehmen für uns gewinnen, dann regnet es für alle Boni.“

Ich lächle und verziehe mich Richtung Tür, während Oliver seinen Laptop an den Bildschirm anschließt und seine Präsentation überträgt.

Bloß weg hier!

„Jennifer? Warte noch kurz, bitte.“

Ich verharre in meiner Bewegung. „Hm?“

Oliver wendet sich mir in seinem Maßanzug zu, der ihm eine gewisse Autorität verleiht, die es nicht gebraucht hätte, um mich noch mehr zu verunsichern. „Nach der angenehmen Zusammenarbeit mit dem Schauspielhaus ist dein jetziges Projekt ein ganz schöner Brocken.“ Seine Worte klingen wie aus einem Lehrbuch für Mitarbeitermanagement und sein Gesichtsausdruck strahlt Mitgefühl aus. „Mir ist bewusst, dass sich deine Überstunden stapeln und Carter&Corner einen Kurs für Höflichkeit belegen sollten, aber du schlägst dich hervorragend. Superprofessionell. Dein verfasstes Statement für den CEO gefällt mir so gut, dass ich es unverändert an den Konzern geschickt habe.“

Jetzt sind wir scheinbar bei dem Teil angelangt, seine Mitarbeiter zu motivieren, damit sie weiter am Ball bleiben.

„Wenn morgen die Medienansprache reibungslos über die Bühne geht, kannst du dir erst einmal eine Woche Urlaub nehmen. Hoffentlich ist das ein kleiner Trost für dich. Okay?“

Ich nicke und lächle.

Lächle und nicke und schließe die Tür hinter mir.

Dann stürme ich aus der Agentur.


Kapitel 2

„In wenigen Minuten erreichen wir Rostock. Dieser Zug endet hier. Wir bitten Sie, alle auszusteigen.“

In einer Art Phantomschmerz greife ich zum Tisch des Vierersitzes, aber mein Laptop liegt nicht drauf. Warum auch? Ich benötige ihn nicht mehr. Nicht mal mein Handy ist an.

Die anderen Passagiere bilden eine Schlange, während ich mit einem Ruck meinen Koffer aus der Ablage ziehe. Zu meiner Überraschung schlage ich ihn niemandem auf den Kopf. Er platzt auch nicht samt Inhalt auf. Es würde gerade zu meinem Leben passen.

Das Treiben am Gleis ist für einen Donnerstagmittag beträchtlich. Ich bahne mir meinen Weg durch die Menschenmenge, umgehe das Kind, was sich vor mir zu Boden wirft und die Zeitungsstände, die mich vorwurfsvoll mustern. Mein Bus kommt in zehn Minuten und ich trage eindeutig die falschen Schuhe, um auf unebenen Pflastersteinen zu warten. Meine Augen fallen immer wieder zu, meinen Morgenkaffee habe ich zu Beginn der Fahrt um halb sechs Uhr morgens im Zug getrunken. Und es stehen mir noch zwei Stunden Fahrt bevor.

Nur wenige Menschen folgen mir in den Bus, auch drinnen sitzt kaum jemand. Ich pfeffere meinen Koffer halb unter den Sitz, denn für mehr reicht der Platz nicht. In einer akrobatischen Meisterleistung verrenke ich meine Füße, um meinen Bleistiftrock nicht an die Grenzen seiner Nähte zu führen. Ich hätte meine Bürokleidung von gestern wirklich wechseln sollen, aber das hätte vorausgesetzt, dass ich noch zu irgendeinem klaren Gedanken fähig gewesen wäre.

Das Ruckeln des Busses lässt mich schnell eindösen, während das Fluchen des Fahrers und dessen abrupte Bremsversuche einen dauerhaften Schlaf verhindern. Nach über dreißig Haltestellen verlasse ich halb komatös den Bus und stehe da – am Bahnhof Rerik.

Wie lange war ich nicht mehr hier?

Ich kann es gar nicht sagen, aber ich spüre förmlich, wie das Salz des vertrauten Windes meine Naturkrause zum Vorschein holt, die ich sonst täglich mit einem Glätteisen bändige.

Ich ziehe meinen Koffer hinter mir her und gehe vorbei an der kleinen Bäckerei, bei der ich mir jeden Morgen in den Sommerferien frische Croissants besorgt habe. An dem Angelladen, wo ich meine ersten Gummistiefel gekauft habe. Und an der Fahrradwerkstatt, die mein Rad mehr als einmal flicken mussten, nachdem ich in die Blumenfelder gerast war. Doch erst als ich das rostige Tor beiseiteschiebe und auf das Holzhäuschen meiner Oma schaue, wo früher Rosen auf den Fensterbrettern standen und Lichterketten den Balkon schmückten, zieht sich mein Magen zusammen. Nach ihrem Tod bin ich nicht mehr hier gewesen und mir wird bewusst, warum.

Schritt für Schritt nähere ich mich der Eingangstür und meinen Erinnerungen, die ich bis heute in einer kleinen Schachtel in meinem Herzen verstaut habe. Das Knacken des Bodens beim Eintreten erinnert mich genauso an den Verlust meiner Oma wie der fehlende Geruch von selbst gebackenem Brot.

Alles steht noch an seinem Platz, wie damals. Meine Eltern halten das Haus gut in Schuss, das muss ich ihnen lassen. Auch nach unzähligen Vermietungen büßt es nicht an Charme ein. Ich fasse an die Vorhänge, die meine Oma selbst gestrickt hat. Sie sind noch warm von der hereinscheinenden Sonne, die am Horizont auf das Blau des Meeres trifft.

Der Anblick macht mir Lust auf mehr, deshalb streife ich die Schuhe ab, schnappe mir ein Handtuch und marschiere geradewegs zum Strand. Besonders Mütter mit kleinen Kindern tummeln sich auf ihren Handtüchern. Bälle fliegen durch die Gegend, Drachen steigen auf und Babys weinen. Aber ich höre nur das Rauschen des Meeres und spüre den warmen Sand zwischen meinen Zehen. Das weiche Handtuch lässt meine erschöpften Glieder entspannen und es dauert nicht lange, bis meine Augenlider langsam schwerer werden.

 

Als ich aufwache, steht die Sonne um einiges tiefer. Viele sind gegangen, der Strand ist weniger voll. Ich recke die Arme nach oben und drehe mich wie eine Robbe auf meinem Handtuch herum auf den Bauch. Irgendwann nach der Wasserschlacht der zwei Mädchen und dem vorbeifahrenden Eiswagen muss ich eingeschlafen sein. Ich gähne, um den restlichen Schlaf aus meinen Gliedern zu verjagen und frage mich, wann ich mich das letzte Mal so ausgeschlafen und entspannt gefühlt habe.

Die Entspannung findet ihr jähes Ende, als ich zu Hause in den Spiegel schaue. Mein Gesicht gleicht einer Tomate und auch meine Schultern und der Nacken glühen. Nichts, was ich nicht mit zwei Packungen Quark und einer Weinflasche lösen könnte, die ich mir kurzerhand aus dem nächstgelegenen Supermarkt schnappe. Wobei das, was der Quark mir an Röte aus der Haut zieht, mit dem Wein bestimmt wiederkommt. Wenn alles in meinem Leben so ausgeglichen wäre …

Der Anblick meiner bereits nach einer Stunde geleerten Weinflasche lässt mich schuldbewusst zum Altglas-Container laufen. Dabei entdecke ich an der Straßenecke an einem unauffälligen Haus ein Schild mit der gelben Aufschrift „Bar“, mehr nicht. Ob in Rerik alle Inhaber vor solcher Kreativität strotzen? Mir reicht das Marketing, niemand muss mich heute zum weiteren Trinken überreden. Wie zu erwarten, sitzen an den Tischen nur zwei Besucher, ältere Herren, die mich neugierig mustern. Ich nicke ihnen zu und setze mich an die Theke.

Die Barkeeperin schiebt mir die verlotterte Karte zu. „Lübzer und Rostocker sind vom Fass.“

Ich massiere mir die Schläfe. „Bitte einen Gin Tonic.“

„Haben wir nicht.“

„Dann gern einen Tequila Sunrise.“

„Keine Cocktails.“

„Gut, dann einen Weißwein. Irgendeinen.“

Ich schaue in die Augen einer verärgerten Walküre, die mich ohne Probleme samt Weinfass aus der Bar katapultieren könnte. Kleinlaut schrumpfe ich auf meinem Sitz zusammen. „Dann nehme ich gern ein Pils. Die klingen lecker.“

Keine Ahnung, welches der Biere sie mir einschenkt und sich in meinem Glas schäumt, aber ich leere es auf Anhieb um die Hälfte, wodurch ich mir ein wenig Respekt in der Bar zurückgewinne. Zumindest bilde ich mir das ein.

Zwei Schlucke später traue ich mich, mein Handy aus der Tasche zu holen und es auf die Theke zu legen.

„Scheiß drauf“, murmle ich und mache es an. Sechs verpasste Anrufe, fünfzehn Nachrichten. Das hält sich fast noch im Rahmen. Wer sagt mir, dass das nicht einfach Versuche waren, mir zum Geburtstag zu gratulieren, statt mich wegen der Story zu terrorisieren?

Ach ja, die Tatsache, dass ich im Februar Geburtstag habe.

Mit zusammengekniffenen Augen blende ich alle anderen Nachrichten aus und scrolle hektisch zum Chat mit Anna. Ich schreibe ihr, wo ich bin und dass sie sich keine Sorgen machen muss, ich aber für einige Zeit abtauche, um den Schlamassel hinter mir zu lassen. Anna weiß wahrscheinlich besser als ich, dass ich Abstand zur Situation brauche. Wie ich sie kenne, wird sie das respektieren. Bis es ihr zu bunt wird und sie mich mit Vollkaracho zwingt, mich alledem zu stellen.

Kaum fasse ich den Entschluss, meine weiteren Nachrichten anzusehen, da reißt der Stuhl unter mir weg und – wusch! – knalle ich mit dem Hintern auf den harten Steinboden. Mein Bier verteilt sich in alle Richtungen, die Flugkurve meines Handys verfolge ich, bis es an der Wand aufprallt. Auf einmal stürzt etwas Sabberndes auf mich zu und drückt mich zu Boden. Schreiend halte ich mir die Hände vors Gesicht und versuche, mich herauszuwinden.

„Runter von der Frau, Ouzo!“

Durch meine Finger schaue ich in braune Augen, umgeben von Fell, Fell und Fell. Sobald sich unsere Blicke kreuzen, richten sich seine spitzen Ohren nach hinten und ein kehliges Bellen schallt mir entgegen. Wie versteinert starre ich auf das Fellknäuel, das ein Mann im nächsten Moment am Halsband packt und hinter sich zieht.

Mein Überlebensinstinkt meldet sich zu Wort, ich springe in einem Satz auf und bringe so viel Abstand wie nur möglich zwischen mir und dem Kläffer.

„Es tut mir wahnsinnig leid! Mir fiel die Leine aus den Händen und schon war er weg. Sind Sie verletzt?“, fragt der Mann mit amerikanischem Akzent.

Automatisch taste ich mich ab, mein Herz rast. Überall auf dem Boden sind Glassplitter von meinem Bier verteilt, aber keiner steckt in meinem Körper.

Ich nicke erleichtert und reibe mir das Steißbein. „Den Adrenalinschub hätte ich heute zwar nicht gebraucht, aber alles gut. Alles noch dran. Wie geht es Ihrem …“

Ich betrachte das rötliche Fell, den weißen Bauch und den puscheligen Schwanz dieses Tieres, bei dem ich nicht sicher bin, was es genau ist. Auf jeden Fall ein unglaublich süßer Kerl. Wenn er mich nicht hätte umbringen wollen.

„… Fuchs?“

Der Mann lacht. „Fast. Ouzo ist wahrscheinlich ein Border-Collie-Mix. Mitarbeiter aus dem Tierschutz fanden ihn auf einer Straße in Griechenland. Von Fuchs war nie die Rede, aber ich könnte schwören, dass in ihm auch eine Katze steckt. Er macht diesen Buckel und kann seine Krallen gut ausfahren.“

Zur Bekräftigung bellt Ouzo mich noch mal an. Vielleicht doch ein Hund.

„Offensichtlich.“

Ich löse den Blick vom Fuchshund und nehme erst jetzt den Mann vor mir richtig wahr. Und wow, noch ein unglaublich süßer Kerl.

„Mir ist das so unangenehm. Ich schwöre Ihnen, wir machen einen großen Bogen um Sie. Und das ist an einem so kleinen Ort wie Rerik gar nicht leicht. Hier trifft man immer dieselben Leute. Manchmal glaube ich, der ganze Ort besteht nur aus Rentnern. Und Hunden.“

Wozu er glücklicherweise zu beiden nicht zählt.

Er holt einmal tief Luft und fährt sich verlegen durch das kastanienbraune Haar, das modisch wirr absteht. „Es tut mir wirklich leid, dass Ouzo Sie so erwischt hat.“

Dieser Mund. Gibt es Mund-Models? Er könnte definitiv eines sein, so voll und perfekt geschwungen sind seine Lippen.

Mir mein schmerzendes Steißbein nicht anmerkend, winke ich dümmlich lächelnd ab. „Kein Problem. Ich bin das gewöhnt.“

„Hunde?“, versteht er mich falsch, aber ich bin noch zu sehr auf sein viel zu hübsches Gesicht fixiert, dass ich den Moment verpasse, das klar zu stellen.

„Das ist ja toll!“, fährt er begeistert fort. „Es gibt hier viele Hundebesitzer, aber ich bekomme den Eindruck, dass keiner seinen Begleiter so richtig versteht.“

Ich beiße mir auf die Lippen. Eigentlich meinte ich, dass ich Kummer und Leid gewöhnt bin, nicht Hunde. Aber spielt das eine Rolle, wenn vor mir ein Mann mit schokoladen­braunen Augen und einem Zahnpasta­lächeln steht?

Ich lächle zurück. „Genau, ich bin Hunde gewöhnt. Egal, welche Rasse. Große, kleine, dicke, dünne. Ich liebe alle.“

„Wie kommt das?“, fragt er mich ehrlich interessiert.

„Ähm, das kommt daher, dass ich …“ Ich streiche über meinen Rock, um Zeit zu schinden, räuspere mich und höre mich selbst sagen: „Ich bin Hundetrainerin.“

Spannend, gefühlvoll, idyllisch

Blick ins Buch
Das kleine Haus am KüstenwegDas kleine Haus am Küstenweg

Ostsee-Roman

Berührender Roman über Träume, Familie und Neuanfang an der Ostsee für alle Leser:innen von Jenny Colgan und Meike Werkmeister 

„Aber das Boot, das wusste sie, war trotz allem noch immer ihr Sehnsuchtsort. Und Moritz noch immer die Liebe ihres Lebens.“ 

Was passiert nach dem Happy End? Diese Geschichte beginnt dort, wo andere aufhören: Hannas großer Traum vom gemeinsamen Leben mit Moritz wird wahr. Doch die Realität holt sie schnell wieder ein. Moritz ist als alleinerziehender Vater gefordert und Hanna hat das Zerbrechen ihrer Kindheitsfamilie nur verdrängt, nie verwunden. Als ihre Liebesbeziehung zu scheitern droht, begreift Hanna, dass Träume allein fürs Leben nicht reichen, und beginnt aktiv um ihr Glück zu kämpfen. 

Prolog

Jetzt

Als sie erwachte, lag er noch neben ihr, den Kopf in der Armbeuge, die Augen geschlossen, der Atem tief und regelmäßig. Er schlief. In ihrem Traum war er fort gewesen. Allein irrte sie durch die Wohnung, verlassen, verzweifelt, und dann klingelte es, und er stand vor der Tür. Ich will bei dir bleiben, sagte er. Für immer, wenn du willst.

Damit endete ihr Traum.

Über seine nackte Schulter hinweg spähte sie auf die Leuchtanzeige des Weckers. 3.15 Uhr. In Kürze würde es dämmern. Sie sollte ihn wecken. Er musste gehen. Dass er so lange blieb, war nicht geplant gewesen. Alles war nicht geplant gewesen.

Aber sie brachte es nicht über sich, ihn wegzuschicken. Nur noch fünf Minuten, dachte sie. Fünf Minuten, in denen sie seine Haut an ihrem Körper spürte. Fünf Minuten, in denen sie seine Nähe roch, diesen ganz besonderen Duft nach Holz, nach Meer und Wind. Fünf Minuten, während er neben ihr lag, als gehöre er nur zu ihr.

So hatte sie auch am Abend zuvor gedacht. Nur noch dieses eine Essen. Nur noch dieser eine Kuss. Nur noch diese eine Stunde.

Und dann war es irgendwie diese Nacht geworden. Weil es eben nie genug war.

Der erste Vogel begann zu singen. Das Dunkel im Zimmer veränderte sich fast unmerklich, verblasste zu einem allerersten Grau. Sie hatten sich ausgerechnet die kürzeste Nacht des Jahres ausgesucht.

Er schlug die Augen auf.

„Ich muss los!“ Von einer Sekunde zur anderen hellwach, sprang er aus dem Bett und ging ins Bad. Ihr wurde kalt, und das trotz sommerlicher Temperaturen und der Decke, die sie sich bis zum Hals heraufzog. Sie hörte, wie er die Dusche anstellte. Er wusch die Nacht von sich ab, ihren Geruch, ihre Liebe.

Als wären ihre Glieder über Nacht erstarrt, quälte sie sich aus dem Bett, sammelte Hemdchen und Höschen vom Fußboden auf, schlüpfte hinein, tappte in die Küche. Ihr Kreislauf machte schlapp, sie musste sich an der Wand abstützen. In der Spüle türmten sich Töpfe, die Pfanne zuoberst in gefährlicher Schieflage. Topflappen, Geschirrtuch und Spülbürste bildeten ein chaotisches Stillleben auf der Arbeitsplatte. Auf dem Tisch ihrer Wohnküche standen noch die heruntergebrannten Teelichter, die leer gegessenen Teller, die Weingläser, gefüllt für einen letzten Tropfen, zu dem es dann nicht mehr gekommen war.

Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen. Als sie seine Schritte hörte, verschob sie den Tisch bei dem hastigen Versuch, sich wieder hochzustemmen.

„Ich kann dir einen Kaffee machen“, sagte sie. Ihre Stimme bebte.

„Danke, nicht nötig.“

Sie spürte einen Luftzug vom offenen Fenster her und merkte plötzlich, dass sie kaum etwas am Leib trug. Unsicherheit überkam sie, zumal er inzwischen wieder komplett bekleidet war. Ein dunkles T-Shirt, Cargohose, Bootsschuhe, sein üblicher lässiger Stil, der sie immer dazu verführte, die Hand auszustrecken und ihn zu berühren. Am Abend zuvor hatte sie diesem Impuls nachgegeben. Jetzt wäre sie am liebsten ins Bad gerannt und hätte sich in ihren Morgenmantel gehüllt.

Sie sahen sich an, während draußen das Vogelkonzert anschwoll und das Grau heller wurde. Er sagte weder Tschüs noch Mach’s gut oder Leb wohl. Sie sagte nicht: Bleib! Schweigend wandte er sich um und ging zur Tür. Sie biss sich auf die Unterlippe und schwieg ebenfalls. Was passieren würde, wenn sie noch ein Wort miteinander wechselten, war klar. Und das durfte nicht sein.

Die Tür schlug hinter ihm zu. Sie rannte ans Fenster und spähte nach draußen. Einen Moment lang fragte sie sich, ob dort wieder dieser Unbekannte stand. Doch die Straße war leer. Außer den Vögeln regte sich noch kein Leben draußen.

Dann beobachtete sie ihn, wie er aus dem Haus kam, mit weit ausgreifenden Schritten, die Hände in den Hosentaschen, den Kopf gesenkt, entschlossen. Sein ungebändigtes Haar tanzte im Nacken.

Dann war er verschwunden, und sie irrte durch die Wohnung, verlassen, verzweifelt. Blut sammelte sich auf ihrer Unterlippe.

Erster Teil

Zuvor

1

Die erste Rakete stieg genau um neunzehn Minuten vor zwanzig Uhr. Funken sprühend zischte sie in den Nachthimmel und verteilte sich zu bunten Leuchtkugeln.

Es war wie zu Silvester, aber man schrieb den einundzwanzigsten März, und es war noch lange nicht Mitternacht.

„Ihr seid ja verrückt!“, rief Nika mit diesem ganz speziellen leisen Quietschen in der Stimme.

Hanna lehnte am Stamm des noch kahlen Kirschbaums, eingemummelt in ihre Winterjacke, die Arme um den Körper geschlungen, und beobachtete ihre Schwester, wie sie da im Garten ihres zauberhaften Reetdachhauses stand, die Hände staunend vor den Mund geschlagen, während sie mit leuchtenden Augen ihre Gäste anstrahlte.

Die Stimmlage verwandelte die erfolgreiche Geschäftsfrau in ein bezauberndes Mädchen. Ihre Hände verrieten die Überraschung, die Blicke ihr Glück. Nika konnte das in Perfektion. Alles wirkte vollkommen natürlich.

Ihr Freund Thorsten, der Nika an Schönheit und Eloquenz in nichts nachstand, stimmte Happy Birthday to you an, und die anderen Geburtstagsgäste fielen mit ein. Gleichzeitig entsandte jemand die zweite Rakete in den Himmel.

„Mögen alle deine Träume im neuen Lebensjahr in Erfüllung gehen, mein Schatz.“ Thorsten nahm Nika in die Arme und küsste sie zärtlich.

Hanna dachte an ihre eigenen Träume, die meistens mit einer Bruchlandung geendet hatten. Das war jetzt vorbei. Gerade nahm sie einen neuen Anlauf, mit neuen Träumen, und diesmal würde sie erfolgreich sein. Nicht ganz so erfolgreich wie ihre Schwester, natürlich nicht, das maßte sie sich auch nicht an. Aber sie wollte endlich auf eigenen Füßen stehen. Das war mehr, als sie in den letzten Jahren geschafft hatte.

„Ist das nicht unglaublich?“ Ihre Eltern näherten sich, Mutter Barbara mit dem für sie typischen rheumatisch steifbeinigen Gang und ihr Stiefvater Theo, der sie fürsorglich am Ellbogen festhielt. „Das Feuerwerk hat genau zu Nikas Geburtszeit begonnen“, stellte Barbara fest.

„Ja, Mama, das ist mir auch aufgefallen.“ Hanna drehte sich wieder zu Nika um. Eine ganze Traube von Gratulanten hatte sich mittlerweile um sie gebildet.

„Ihre Freunde müssen das gewusst haben“, fuhr ihre Mutter bewundernd fort.

„Sie haben mich gefragt.“ Theo zwinkerte Hanna zu. Sie lächelte zurück.

„Dass sie auf diese Idee gekommen sind! Nika hat so gute Freunde. Sie hat einfach ein Händchen für alles, Mann, Geschäft, und neben allem immer noch Zeit für uns …“

Barbaras Wortschwall rauschte nieder wie ein Wolkenbruch, und Hanna hörte daraus nicht nur das hymnische Lob auf Nika, sondern wurde sich dabei gleichzeitig ihrer eigenen Fehlerpalette bewusst. Wann würde sie endlich einer geregelten Arbeit nachgehen? Wann einen Mann finden? Wann überhaupt einfach nur mal echte Freunde?

„Ich bin gespannt, was das neue Lebensjahr bringt.“ Um den Lärm des Feuerwerks, das Stimmengewirr und die Ah- und Oh-Rufe zu übertönen, redete Barbara ziemlich laut. „Wer weiß, vielleicht sogar ein Enkelchen für mich? An der Zeit wäre es ja.“

„Mama!“, stieß Hanna gequält hervor. Sie kannte die Enkelerwartungen ihrer Mutter sehr gut. Noch dazu war sie die ältere der beiden Schwestern.

„Schon gut, Bärbel.“ Theo war der Einzige, der Barbaras Namen so abkürzen durfte. „Aber wir sollten auch Hanna nicht vergessen.“

Barbara unterbrach sich und ließ den Blick überrascht vom Ehemann zur Tochter schweifen.

„Ihren Neuanfang“, erinnerte Theo sie.

Hanna wurde warm ums Herz. Es war so typisch für ihn, er machte keinen Unterschied zwischen seiner Tochter und seiner Stieftochter. Nika und sie waren beide seine Mädchen, die er liebte und mit allem unterstützte, was ihm möglich war. Mit Liebe, Geld, Beistand, manchmal auch mit Strenge. Sie konnten immer auf ihn zählen.

„Aber natürlich denke ich an Hannas Neuanfang“, beteuerte Barbara, jetzt mit Wärme in der Stimme. „Bestimmt wird alles klappen. Wann fängst du bei der neuen Arbeitsstelle an?“

„Übermorgen.“ Schon bei diesem einen Wort bekam Hanna Herzklopfen.

„Viel Glück, meine Große!“ Barbara tätschelte ihr den Arm, dann wurde sie plötzlich so beweglich, wie ihr Rheuma es zuließ, und schlüpfte in eine Lücke, die sich in der Gratulantenschar um Nika geöffnet hatte. „Monika, Kind, herzlichen Glückwunsch!“ Sie nahm Nika in die Arme und drückte sie an sich.

„Danke. Es ist so schön, dass ihr dabei seid. Mama, du zerquetschst mich!“

„Ja, ja, schon gut, ich beherrsche mich. Aber wenn das eigene Kind so groß wird … du weißt schon … Dreißig!“ Barbara wischte sich die Augen.

„Sie ist und bleibt eine Glucke.“ Auch Theo umarmte Nika. „Alles Gute, mein Mädchen.“

„Danke, Papa.“ Innig erwiderte Nika die Umarmung.

„Guck sie dir an, die beiden!“, seufzte Barbara und wischte sich noch einmal die Augen. „Sie war schon immer ein Papakind.“

Ich auch, dachte Hanna. Ich auch! Sie hatte Nika sonst nie etwas geneidet, weder die gut aussehenden Männer noch den Erfolg mit ihrem Geschenkeladen. Um die Tatsache, dass Theo ihr leiblicher Vater war, beneidete sie ihre Schwester allerdings glühend.

Laute Musikrhythmen drangen aus dem Haus. Thorsten war hineingegangen und hatte die Musikanlage aufgedreht. Jetzt erschien er wieder auf der Terrasse. „Der Tanz ist eröffnet!“, rief er.

Theo verbeugte sich vor Nika, sie knickste lachend, und gemeinsam tanzten sie vom Garten ins Wohnzimmer hinein. Der gesamte Pulk, der zum Feuerwerk nach draußen geströmt war, folgte ihnen und drängte sich wieder nach drinnen.

Hanna stand an derselben Stelle wie zuvor. Sie hatte ihrer Schwester immer noch nicht gratuliert. Aus dem Wohnzimmer rief jemand „Es ist kalt!“ Die Terrassentür wurde zugezogen, aber sie rührte sich noch immer nicht.

Auf den Wangen spürte sie die sanfte Brise, die vom Meer herüberwehte. Sie liebte die Seeluft, die stets eine besondere Verheißung zu enthalten schien, aber es war wirklich kalt. Fröstelnd schlang sie die Arme fester um den Körper. Warum klopfte sie nicht an die Glasscheibe der Terrassentür? Warum ging sie nicht ums Haus und klingelte an der Haustür?

Doch sie tat nichts dergleichen. Stattdessen betrat sie den saftig grünen Grasteppich, der an die Terrasse anschloss, und spazierte langsam durch den Garten. Auch die Zweige der Sträucher waren noch kahl, aber im Dunkeln leuchtete ein Feld gelber Osterglocken. Die große Gartenbank in der hintersten, lauschigsten Ecke war schon mit einem Kissen versehen. Hanna atmete tief durch und ließ sich mit geschlossenen Augen darauf nieder.

Aber es war kein Kissen, es bewegte sich. „Ah!“

„Uh!“, stieß Hanna erschrocken hervor und schoss in die Höhe.

So lernte sie Moritz kennen.


2

Die Nacht war kurz gewesen, kürzer, als Hanna es vertrug, denn ihr Hals kratzte, und die Nase lief. Nachwirkungen des gestrigen Gesprächs auf der Gartenbank, das länger gedauert hatte als bei den derzeitigen Temperaturen ratsam. Trotzdem machte sie sich frühzeitig wieder auf den Weg zu Nika. Die Straße am Küstenweg entlang war die schönste im Ort, ein reetgedecktes Haus reihte sich an das nächste, alle ähnlich und doch jedes anders in seiner Besonderheit. Nikas Haus wirkte wie einem Werbefilm für die schönste Urlaubsregion entsprungen, alles war frisch, aufgeräumt, glänzend. Fein bestickte Vorhänge zierten die Fenster, im Vorgarten leuchteten farblich aufeinander abgestimmte Zwiebelblumen. An der Haustür hing ein Blumenkranz, und die Hausnummer war eine geschmackvolle blau-weiß gemusterte Kachel. Beim Haus nebenan dagegen lehnten Fahrräder unterschiedlicher Größe am Zaun, im Vorgarten lag eine umgekippte Schubkarre. Die Hausnummer, ebenfalls auf einer Kachel notiert, ließ sich wegen eines Sprungs nicht mehr entziffern. Selbst die Blumen im Vorgarten sahen irgendwie gerupft aus. Alles machte einen leicht chaotischen Eindruck, und doch erschien es Hanna gerade deshalb liebenswert.

In einem solchen Haus wollte sie einmal wohnen. Irgendwann in ferner Zukunft, wenn sich ihre Träume erfüllten.

Sie sah auf die Uhr, es war Punkt neun. Ziemlich früh für den Morgen nach einer Party, aber ihre Schwester besaß eine eiserne Konstitution. Nach Hannas Berechnung war sie um diese Zeit mit dem Frühstück fertig und duldete keine Minute länger das Chaos in ihrem Haus.

„Guten Morgen“, sagte Hanna, als sich die Tür öffnete.

Nika stand vor ihr, auch äußerlich das exakte Gegenteil ihrer Schwester. Hanna war mittelgroß, mit braunen Augen und brünettem Haar, das sie mit einem Wirbel am Hinterkopf ärgerte und ihr bis knapp über die Schulter hing. Nika dagegen war zierlich, blond und hatte graublaue Augen. Sie trug eine weite Baumwollhose und hatte ihr glattes langes Haar zu einem ordentlichen Pferdeschwanz gebunden. Die Feier hatte keinerlei Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. „Was willst du denn hier?“, fragte sie und biss in ein marmeladenbeschmiertes Croissant.

„Ich möchte dir beim Aufräumen helfen.“ Ein Gedanke durchzuckte Hanna. „Oder hast du etwa schon gestern Nacht …?“ Zuzutrauen war es ihr.

Zu Hannas Erleichterung zog Nika die Tür auf. „Nein, Thorsten hat mich erfolgreich daran gehindert und mir Hilfe versprochen, wenn ich bis heute Morgen warte.“ Sie schnaubte. „Rat mal, wer jetzt noch im Bett liegt!“

Hanna hätte auch gern noch im Bett gelegen und ihre diffusen nächtlichen Träume entwirrt. „Dafür bin ich ja jetzt da.“

„Lieb von dir.“ Nika führte sie in die Küche und wies mit dem Ende ihres Croissants zum Tisch, der sich unter seiner Geschirrlast geradezu bog. „Wir haben gestern“ – sie lächelte – „oder besser gesagt heute kurz vor Morgengrauen alles hier zusammengestellt. Du kannst schon anfangen. Die Teller in die Spülmaschine, die Gläser mit der Hand sauber machen. Am besten räumst du aber vorher noch die Flaschen weg, Bier in die Kästen, Weinflaschen in den Korb. Nein!“, hielt sie Hanna auf. „Das ist alkoholfreies Bier, das kommt in den anderen Kasten.“

Hanna nieste und sortierte folgsam die Flaschen um. „Das war eine tolle Feier gestern“, begann sie.

„Ja, ziemlich toll. Allein das Feuerwerk!“ Nika, die gerade Haushaltshandschuhe überstreifte, hielt kurz inne und lächelte verzückt.

„War das Thorstens Idee?“

„Glaubst du, Thorsten hat solche Ideen?“ Wieder schnaubte Nika.

Irgendwie klang das nicht so, als wären bald Enkelchen für Barbara in Sicht.

„Also der Einfall deiner Freunde? Mama sagte gestern, du hättest richtig tolle Freunde.“

„Ja, da hat sie recht. Aber das weißt du doch. Du kennst meine Freunde.“

„Nicht alle.“ Da war sie, die Gelegenheit, auf die sie gehofft hatte. Die Gelegenheit, wegen der sie sich aus dem Bett gequält und unter das Kommando ihrer Schwester begeben hatte. „Einer zum Beispiel, er heißt Moritz …“

„Du hast dich in den letzten Jahren ja total zurückgezogen. Ein Wunder, dass du gestern aufgetaucht bist.“

Und heute, dachte Hanna, die sich langsam fragte, ob das kein Fehler gewesen war. „Ich hatte eben viel zu tun.“

„Du hast irgendwie immer wahnsinnig viel zu tun.“

Hanna presste die Lippen aufeinander. „Ich habe eben studiert, das geht nicht so nebenbei.“

„Du hast davor schon mal studiert. Du bist doch schon seit Ewigkeiten an der Uni.“

So konnte man das auch nennen. „Da hatte ich Jobs, aber immer nur befristet. Deswegen das Zweitstudium, das weißt du doch. Und das wollte ich so schnell wie möglich durchziehen. Für anderes hatte ich keine Zeit.“ Nun gut, vielleicht hatte sie auch keine Lust gehabt, sich in Nikas gediegenes Umfeld zu begeben, ihren tollen Freundeskreis kennenzulernen und sich mit Thorsten zu unterhalten, dessen Gesprächsthemen sich auf Sport und mögliche Geldquellen beschränkten. „Willst du mir das jetzt vorwerfen?“

„Nein, um Himmels willen!“ Nika hob beide Hände. „Tut mir leid, Hanna, so war das nicht gemeint. Ist morgen nicht dein erster Arbeitstag?“

Hanna nickte. „Logopädie Seiler.“

„Das wird bestimmt großartig. Frau Seiler ist sehr sympathisch, sie kauft öfter bei mir ein.“ Nika lächelte versöhnlich.

Hanna rang sich ebenfalls ein Lächeln ab und putzte sich erneut die Nase. Sie hasste jede Form von Streit. Sowieso hatte sie eigentlich über etwas ganz anderes sprechen wollen.

Nika ließ Wasser ins Spülbecken laufen und gab großzügig Spülmittel dazu. „Bringst du jetzt die Flaschen im Korb weg?“, fragte sie.

„Wenn ich am heiligen Sonntag die Flaschen in den Container werfe, lynchen mich deine Nachbarn.“

„Du sollst die Flaschen auch in den Schuppen neben die Mülltonnen stellen. Wir sammeln sie dort in einer Kiste und bringen sie jeden Montag zum Container.“ Wie immer war bei Nika alles perfekt durchorganisiert.

Hanna schleppte den Korb mit den Flaschen nach draußen in den Vorgarten, wo sich der Schuppen unauffällig an die Hauswand schmiegte. Woher kennst du eigentlich Moritz?, übte sie in Gedanken. Hab ihn noch nie bei dir gesehen.

War das unverfänglich genug?

Ich hab mich gestern mit Moritz unterhalten. Netter Kerl.

Nein, das war nicht gut.

Kannst du mir die Telefonnummer von Moritz geben? Ich wollte ihn etwas fragen.

Bloß was?

Sie öffnete den Schuppen. „Guten Morgen“, hörte sie die Stimme, deren Klang ihren Körper am Abend zuvor in Vibration versetzt hatte.

Moritz stand am Nachbarzaun, in der Hand ein zusammengerolltes Segeltau. Zum ersten Mal sah sie ihn bei Tageslicht, zum ersten Mal sah sie überhaupt mehr von ihm als nur eine schemenhafte Gestalt, und der Anblick löste dasselbe in ihr aus wie seine Stimme. Er war groß, von schlaksiger Lässigkeit und hatte eine sehr körperliche Ausstrahlung, mit kräftigen Armen und Händen, denen sie ansah, dass er zupacken konnte. Er war unrasiert, die Haare fielen ihm bis auf die Schultern, und seine graublauen Augen blitzten verwegen. Eine Piratenklappe hätte ihm gut gestanden.

„Du wohnst auch hier?“, fragte er und wies auf Nikas Haus. „Dann sind wir ja direkte Nachbarn.“

Er war also der Bewohner des liebenswert chaotischen Hauses. „Meine Schwester wohnt hier mit ihrem Freund. Ich helfe nur beim Aufräumen.“

„Ich bin erst vor einigen Wochen eingezogen. War nett von deiner Schwester, mich zu ihrer Feier einzuladen. Auch wenn ich nicht alle kennenlernen konnte.“

„Ich auch nicht.“ Sie lächelte unwillkürlich und musste gleich darauf niesen. „Entschuldigung, ich hab mich wohl erkältet.“

„Es war zu kalt.“

„Gestern.“

„Im Garten.“

„Ja.“

Ihre Sätze verhakten sich ebenso ineinander wie ihre Blicke. Am Abend zuvor war es zu lange zu kalt gewesen. Aber sie hatten so viel zu reden gehabt. Nichts Persönliches. Und doch Persönliches. Über den Nachthimmel. Über das geheime Wachstum im Garten, das man noch kaum sah, aber schon spürte. Über Bradebüll, den kleinen Nachbarort, in dem sie aufgewachsen war. Über das Meer, das sie so vermisst hatte, als ihr Lebensweg sie von dort wegführte. Über die Küstenbewohner, unter denen sie sich heimisch und gleichzeitig fremd fühlte, wie sie sich überhaupt überall irgendwie fremd fühlte. So hatte sie es ihm nicht wörtlich gesagt, aber sie spürte, dass er es verstanden hatte.

Ihretwegen hatte er nicht alle Anwesenden kennengelernt. Er hatte die ganze Zeit nur mit ihr gesprochen.

Und plötzlich fand sie die richtigen Worte. „Ich habe auch etwas zu feiern. Morgen ist mein erster Arbeitstag.“

Bevor sie weitersprechen konnte, hörte sie eine laute Kinderstimme. „Papa!“ Ein Junge rannte aus dem Nachbarhaus herbei. Neben Moritz blieb er stehen und sah Hanna an. „Papa, wer ist das?“

„Das ist Hanna. Sie war auch auf der Feier gestern.“ Liebevoll legte Moritz eine Hand auf den Kopf des Kleinen und lächelte Hanna an. „Yannick, mein Sohn. Er ist fünf.“

„Ich wollte auch feiern“, wandte sich der Kleine vorwurfsvoll an Hanna. Von den knapp schulterlangen Haaren über die graue Hose mit den vielen Taschen bis zu den flachen Bootsschuhen war er eine Miniaturausgabe seines Vaters. „Aber Pauline war krank, und Mama musste noch so viel arbeiten, und ich sollte ins Bett. Deshalb ist Papa ganz allein feiern gegangen.“

Trotz ihres auf einmal zentnerschweren Herzens musste Hanna sich ein Schmunzeln verkneifen. „Vielleicht klappt es ja beim nächsten Mal, und du kannst mitfeiern.“

Yannicks Aufmerksamkeit war schon abgelenkt, er hatte das Tau in der Hand seines Vaters entdeckt. „Papa, wann gehen wir?“

„Gleich. Wir müssen uns erst noch von Hanna verabschieden.“

Yannick hob die Hand zu einem lässigen Winken. „Tschüs, wir gehen jetzt zu den Booten. Papa repariert die nämlich alle.“

„Ich habe eine Werft“, übersetzte Moritz. „Kleiner Einmannbetrieb.“

„Na, dann viel Spaß. Macht’s gut, ihr beiden!“ Hanna lächelte, bis Vater und Sohn gegangen waren und ihr die Mundwinkel wehtaten.

Es wäre ja zu schön gewesen.

Wellen, Meeresbrise und Neuanfang

Blick ins Buch
Das kleine Haus am DeichDas kleine Haus am Deich

Ein Nordsee-Roman

Das Glück wartet hinterm Deich – Ein Ostfriesland-Roman

Die 34-jährige Róisín, halb Irin, halb Ostfriesin, steht vor den Scherben ihrer Ehe. Von einem Tag auf den anderen hat ihr Mann ihr eröffnet, dass er sie nicht mehr liebt. Zum Glück kennt ihr bester Freund Sean die Lösung für den Neuanfang: Er vermietet Róisín und ihren Katzen sein winziges Häuschen mit verwildertem Garten in Ostfriesland. Das Minihaus, wie sie es tauft, ist der einzige Lichtblick in ihrem tristen Alltag. Um Róisín auf andere Gedanken zu bringen, stellt Sean ihr seinen attraktiven Kumpel Enda vor. Der ist gebürtiger Ire und hat gerade einen alten Hof in der Nähe gekauft, auf dem er Pferde gewaltfrei ausbilden möchte. Mit Endas Hilfe lernt Róisín das Leben wieder zu schätzen. Doch obwohl die beiden von Anfang an eine besondere Vertrautheit verbindet, ist Róisín sich nicht sicher, ob sie es schafft, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und ihr Herz neu zu öffnen …

Dieses Buch erschien bereits 2019 unter dem Titel „Das kleine Haus am Deich“

Kapitel 1

Ich heiße Róisín. Das ist irisch und bedeutet „kleine Rose“. Ich bin vierunddreißig, halb Irin, halb Ostfriesin, und mein Leben – oder zumindest der Teil davon, der meine Ehe betrifft – ist nur noch ein Haufen Schrott und Asche.

Als ich ungefähr fünf war, war das mein Lieblingsausdruck. Wenn etwas kaputtging oder mir nicht mehr gefiel, dann nannte ich es „Schrott und Asche“. Dass meine eigene Ehe irgendwann ein Schrotthaufen sein würde, wäre mir als Kind glücklicherweise nie in den Sinn gekommen. Jedenfalls, das ist die Kurzfassung.

Mittlerweile gibt es den einen oder anderen Silberstreif am Horizont, womit ich schon fast nicht mehr gerechnet hätte. Vielleicht ist auch bloß genügend Zeit vergangen, die ja angeblich alle Wunden heilt. Ha! Was für ein zynischer Schwachsinn. Ich behaupte, Zeit macht es höchstens leichter, mit den Wunden zu leben. Weil man sich an sie gewöhnt. So sieht’s aus.

Vor einer Woche bin ich in ein winziges Haus mit einem verwilderten Garten gezogen, das ich unbegreiflicherweise mieten konnte. Unbegreiflich deshalb, weil ich in der Regel nicht so viel Glück habe. Wenn man sich etwas schon sehr lange wünscht und es nie bekommt, dann hört man irgendwann auf, an die Erfüllung dieses Wunsches zu glauben. Desillusioniert ist das richtige Wort dafür, schätze ich. Desillusioniert ist mein Wort! Und nun ist das Wunder wahr geworden: Simsalabim, da ist das Häuschen, ganz für mich allein. Obwohl der Plan eigentlich immer auch den dazu passenden Ehemann vorsah. Aber anscheinend kann ich nicht beides haben.

Das Universum hat echt einen seltsamen Humor. Wenn es dir etwas wegnimmt, gibt es dir dafür etwas anderes. Nicht unbedingt exakt das, was du dir in diesem Moment erträumst, aber immerhin. Friss oder stirb, und dann mach das Beste draus.

Das Haus gehört einem Freund von mir namens Sean. In den vergangenen Jahren hatte ein älteres Ehepaar darin gelebt, doch die beiden waren vor Kurzem ins Altersheim übergesiedelt. Zurück blieben reichlich verwohnte, nikotingelbe Räume und ein alter Kater, der im Geräteschuppen hauste und mich von der ersten Sekunde an mied wie der Teufel das Weihwasser.

„Tu mir einen Gefallen“, bat Sean mich bei der ersten Besichtigung, als ich mit großen Augen die schiefen Wände, das tiefgezogene Dach und den in Pink- und Lilatönen blühenden Garten bestaunte. „Stell es dir vor, wie es aussieht, wenn ich hier erst mal eine Putzkolonne und die Maler durchgejagt habe, ja? Ich brauche jemanden, der sich ein bisschen um das Haus kümmert. Und um den Garten natürlich. Der alles in Schuss hält. Die beiden Alten haben am Ende überhaupt nichts mehr getan außer im Sessel zu sitzen und wie die Schlote zu qualmen. Kaum zu glauben, dass sie überhaupt noch leben.“

Er verzog säuerlich das Gesicht, während mein Herz einen Luftsprung machte und jubelte. Zum ersten Mal seit ich weiß nicht wann fühlte ich etwas anderes als Traurigkeit oder Wut. Euphorie, das traf es ziemlich gut.

Aufgeregt wandte ich mich an Sean: „Ich nehme es. Mach mir einen vernünftigen Preis, und ich miete es auf der Stelle!“

Jetzt war es an Sean, mich erstaunt anzustarren. „Den auch?“, fragte er und zeigte auf den struppigen schwarz-weißen Kater, der gerade durch den Garten schlich und dabei einen möglichst großen Bogen um uns schlug. Sein Blick drückte abgrundtiefe Verachtung aus.

„Natürlich“, erwiderte ich ungeduldig. „So ein altes Tier kann man doch nicht mehr umsiedeln.“

Ich war vernarrt in Katzen. Mein eigener Bestand war vor Kurzem von fünf auf drei Tiere geschrumpft – ein weiterer trauriger Meilenstein in einem durch und durch beschissenen Jahr. Zwei Katzen innerhalb von acht Wochen unerwartet zu verlieren, war an sich schon mehr, als ein Mensch ertragen konnte, aber im Kielwasser meiner kürzlich gescheiterten Ehe brachte es mich fast um den Verstand. Mein Leben fiel in sich zusammen wie eine Sandburg. Einer nach dem anderen schien mich zu verlassen.

Aber ich bekam mein Haus. Das Minihaus, wie ich es im Stillen taufte, gerade mal sechzig Quadratmeter groß. Das hielt mich aufrecht. Auf meine Bitte hin ließ Sean es drinnen komplett weiß streichen. Die alten Fußbodendielen bekamen eine Generalüberholung, ebenso das Badezimmer, das eindeutig noch aus den Siebzigern stammte. In die lila Kacheln an den Wänden war ich sofort verknallt und verbot Sean, sie anzurühren. Dafür kümmerte er sich höchstselbst um tropfende Wasserhähne und undichte Fenster. Und schließlich war es so weit: Ich konnte einziehen.

Dass ich zuvor die riesige Altbauwohnung, die ich jahrelang gemeinsam mit meinem Mann bewohnt hatte, quasi im Alleingang auflösen musste, verschwieg ich Sean. Ebenso, dass jedes Treffen mit meinem Ex in Geschrei und Tränen endete. Vermutlich konnte er sich das selbst zusammenreimen.

Dabei gab es nicht mal Streit um Möbel, Bücher oder Küchengeräte. Wir konnten einfach nicht mehr miteinander reden, und das war eigentlich das Schlimmste. Wenn ich Marco vorwarf, dass er sich fernhielt und mir die Drecksarbeit überließ, brüllte er mich an, dass er meine ewigen Anschuldigungen satthätte. Und schon steckten wir mitten in der schönsten Grundsatzdiskussion. Es war wie ein Albtraum.

Die Organisation meines eigenen Umzugs hatte mich meine letzte Kraft gekostet. Ich schaffte es gerade noch, einen Heulkrampf abzuwenden, als sich nach der letzten Möbelfuhre Kisten und Kartons unter freiem Himmel türmten und sich ein Wolkenbruch ankündigte. Im Minihaus war nicht mehr genügend Platz, und das war im wahrsten Sinne des Wortes der Tropfen, der das Fass – beinahe – zum Überlaufen brachte.

Sean, der wie meine Schwester und einige wenige alte Freunde zum Helfen gekommen war, sah meinen verzweifelten Gesichtsausdruck und stellte sich mir in den Weg. „Hey“, sagte er eindringlich. „Es ist nur Wasser! Alles halb so wild.“

Ich starrte ihn an und fragte mich, was zur Hölle ich hier eigentlich tat. Ich wollte das alles nicht. Ich wollte nicht allein in diesem Haus leben, nicht ohne meinen Mann. Ich hatte das wilde Bedürfnis, alles rückgängig zu machen, damit mein Leben wieder war wie früher.

Stattdessen musste ich es durchziehen. Diesen mörderischen Tag hinter mich bringen. Ich hatte keine Wahl; es gab keinen Ausweg, kein Schlupfloch zurück in die Vergangenheit. Das Ganze war so endgültig wie der Tod, und ich war nur einen Atemzug davon entfernt, zusammenzubrechen und zu brüllen wie ein sterbendes Tier. Aber irgendwie schaffte ich es, mich noch einmal am Riemen zu reißen. Wahrscheinlich war es nur der Anwesenheit meiner Helfer zu verdanken, dass ich durchhielt.

Der Umzug war nun eine Woche her. Ich hatte mich beruhigt und meine Nerven wieder einigermaßen im Griff. Der Gedanke, allein im Minihaus zu wohnen, verursachte mir keine Erstickungsanfälle mehr. Es war Samstagmorgen, die Sonne schien, und ich hatte ein langes freies Wochenende vor mir, das ich ganz in Ruhe beginnen wollte.

Mit einem Pott Kaffee in der Hand und noch im Nachtshirt schlurfte ich durch die Hintertür auf die Terrasse hinaus und ließ mich in einen der alten Holzstühle fallen, die noch von den Vormietern stammten. Es war Anfang Juni und herrlich warm. Ich schloss die Augen und kostete ein paar Minuten lang den unglaublichen Luxus aus, dass ich hier in meinem eigenen Garten hinter meinem eigenen Haus sitzen und tun und lassen konnte, was ich wollte. Auch wenn alles nur gemietet war – das Minihaus schien auf mich gewartet zu haben. Es war wie für mich gemacht.

Hierfür würde ich Sean ewig dankbar sein, selbst wenn ich noch vor einer Woche ganz und gar nicht den Anschein erweckt hatte. Als ich ihm das sagte, wollte er nichts davon hören.

„Wir Iren müssen zusammenhalten“, hatte er auf Englisch im breitesten Kerry-Dialekt genuschelt und mir grinsend auf die Schulter geklopft. Doch ich wusste, dass er es nicht nur deswegen getan hatte. Sean war eine gute Seele, auch wenn man das hinter seiner robusten, rotblonden Paddy-aus-Irland-Fassade nicht unbedingt vermutete. In Wahrheit hieß er auch gar nicht Sean, sondern Sven und war ein waschechter Ostfriese, aber dazu später mehr.

Ich kannte ihn erst seit einem guten halben Jahr. Damals hatte er gerade die reichlich heruntergekommene Kneipe im alten Bahnhof übernommen und einen zünftigen irischen Pub daraus gemacht, in dem ich mich nach der Trennung von Marco jedes Wochenende systematisch volllaufen ließ. Dabei kam ich mit Sean ins Gespräch. Er konnte es kaum fassen, mitten in der ostfriesischen Provinz eine echte Irin – na ja, Halbirin – zu treffen.

Wir hatten einander unsere verworrenen Familiengeschichten erzählt, während er Bier zapfte und ich mich meinem Wodka-O widmete. Und auch als ich mein Leben wieder so weit unter Kontrolle hatte, dass ich mich nicht mehr jeden Samstagabend bis kurz vorm Filmriss betrank, hatte ich die Gewohnheit beibehalten, Sean mindestens einmal die Woche im Pub zu besuchen. Er gab mir ein leises Gefühl von Geborgenheit, so als würde ich bei einem Familienmitglied im Wohnzimmer sitzen und über die Ereignisse der Woche plaudern.

 

Ein unwirsches, lang gezogenes Maunzen unterbrach meine Gedanken. Ich blickte auf und entdeckte den alten schwarz-weißen Kater der Vormieter, den ich Fred getauft hatte. Er stand nur zwei Meter von meinem Gartenstuhl entfernt und starrte mich missbilligend an. Mittlerweile hatte er zwar begriffen, dass er bei mir gefüttert wurde wie ein König, aber das bedeutete noch lange nicht, dass ich ihn anfassen durfte. Im Gegenteil, seinem Blick nach zu urteilen hielt er mich für eine niedere Spezies, gerade gut genug, ihm erlesene Speisen zu kredenzen. Ich vergötterte ihn jetzt schon.

„Hi, kleiner Opa. Du kannst doch nicht schon wieder Hunger haben?“

Da ich wusste, dass er sein misstönendes Altmänner-Miauen erst einstellen würde, wenn ich seinen Futternapf frisch gefüllt hatte, schnappte ich mir meinen leeren Kaffeepott und begab mich in die Küche, um uns beide zu versorgen. Der Kater folgte mir bis zur offenen Hintertür und blieb dort stehen. Freiwillig setzte er keinen Fuß ins Haus, aber ich wusste, das konnte sich noch ändern. Vorläufig hatte ich ihm in einer geschützten Ecke der Terrasse einen Futterplatz eingerichtet. Auch sein altes Lager im Geräteschuppen hatte ich durch neue Schlafplätze ersetzt, inklusive eines luxuriösen Katzenbettchens auf der ehemaligen Werkbank unter dem Fenster. Dort lag Fred gern in der Sonne und hielt Hof, wie ich beobachtet hatte.

Meine eigenen drei Katzen Hilde, Wilma und Leli lungerten wie zufällig in der schmalen Küche herum. Sie belagerten die beiden Fensterbänke und starrten immer wieder misstrauisch nach draußen, weil sie den Feind in Form von Fred im Auge behalten wollten. Vor die Tür traute sich keine von ihnen, aber lange konnte es nicht mehr dauern, bis sie der Versuchung nachgaben.

Ich war schon immer eine „Crazy Cat Lady“ gewesen. Da wiederholt Katzen aus dem Tierschutz bei mir hängen blieben, die keine Chance auf Vermittlung hatten, wuchs ihre Anzahl im Laufe der Jahre. Marco fand meinen Katzenfimmel stets ein bisschen übertrieben. Für ihn hätte es auch eine Katze im Haushalt getan, alles andere hielt er für spleenig.

Marco hasste es, aus der Reihe zu tanzen. Alles, was abwich von dem, was gemeinhin als normal galt, war ihm ein Gräuel. Doch in diesem Punkt ließ ich nicht mit mir reden. Heute war ich froh, seinem Gemurre nie nachgegeben zu haben, denn ohne meine pelzigen Seelentröster hätte ich unsere Trennung nicht überlebt.

Nachdem ich den Kater gefüttert und mir selbst frischen Kaffee gemacht hatte, setzte ich mich mit dem Handy an den Küchentisch, um eine Einkaufsliste zu schreiben. Es war schon fast elf Uhr, und ich hatte noch nicht mal geduscht; der Kühlschrank war so gut wie leer, und ich musste noch in den Baumarkt. Am Abend wollte ich dann bei Sean im Pub vorbeischauen.

Ganz automatisch und ungefähr zum hundertsten Mal an diesem Tag öffnete ich WhatsApp, um nachzuschauen, ob Marco mir in der Zwischenzeit geschrieben hatte. Keine neuen Nachrichten – was ich längst wusste, denn ich hätte sie sonst natürlich in der Vorschau auf dem Display entdeckt. Dieses ständige Nachsehen war wie ein Zwang und frustrierte und deprimierte mich gleichermaßen. Genervt legte ich das Handy auf den Tisch und ging duschen, um mich abzulenken und endlich etwas Produktives zu tun.

Es war über sechs Monate her, seit mein Mann mich verlassen hatte, und ich war nicht mal annähernd bereit zu akzeptieren, dass es wirklich endgültig aus war zwischen uns. Ehrlich gesagt, konnte ich noch immer nicht fassen, dass wir überhaupt getrennt waren. Dass unsere Ehe, unsere Beziehung so ganz und gar hatte schiefgehen können.

Wenn ich mich zurückerinnerte, war unsere Liebe einmal so groß gewesen wie das Universum. Und ebenso einzigartig. Sie konnte nicht einfach tot und vergangen sein. Zumindest weigerte ich mich, das zu glauben. Wir hatten noch nicht über Scheidung gesprochen. Dieses Thema mieden wir beide, wenn auch vermutlich aus unterschiedlichen Gründen. Aber wenn ich ehrlich zu mir selbst war, was selten geschah, gab es nicht das kleinste, nicht das geringste Anzeichen dafür, dass Marco beabsichtigte, zu mir zurückzukehren.

„Ich liebe dich nicht mehr“, hatte er an einem Abend im vergangenen Herbst zu mir gesagt, nachdem er mir eröffnet hatte, dass er darüber nachdachte, sich von mir zu trennen. Er klang halb resigniert, halb verzweifelt. „Schon lange nicht mehr. Diese Ehe ist wie ein Gefängnis. Ich langweile mich und fühle mich eingesperrt. Offen gestanden will ich nur noch weg.“

Aber ich liebe dich noch, wollte ich ihm ins Gesicht schreien, doch ich bekam keinen Ton heraus, weil seine Worte so furchtbar wehtaten und ich nicht glauben konnte, dass er wirklich meinte, was er sagte. Es war unmöglich, dass er mich nicht mehr liebte. Wir waren Seelenverwandte. Unsere Liebe war unzerstörbar. Wir hatten vor zehn Jahren geheiratet, weil wir beide es aus ganzem Herzen wollten.

Und doch war es ihm ernst. Er war nicht mit Absicht grausam, doch er hatte sich längst von mir entfernt, und ich hatte es nicht bemerkt. Oder die Augen davor verschlossen. Wie sonst hatte es so weit kommen können? Ich hätte bis zum letzten Atemzug um unsere Ehe gekämpft, denn ich konnte und wollte nicht ohne ihn leben. Allein der Gedanke löste Panik in mir aus. Wenn er mich verließ, würde ich sterben. Ich war bereit, alles zu ändern, und damit meinte ich wirklich alles. Aber er wollte nicht. Nicht mehr. Ungefähr sechs Wochen und zahllose Streits später, inklusive nächtlicher Diskussionen, halbherziger Annäherungsversuche und dramatischer Szenen, zog er aus.

Seit er fort war, herrschte in meinem Inneren eine Art Ausnahmezustand, der einfach nicht enden wollte. Die irrationale, emotional gesteuerte Róisín benahm sich wie eine angekettete Verrückte: Sie wand sich, lärmte, argumentierte wirr und weigerte sich eisern, ihre Situation zu akzeptieren.

Dieser Zustand zerstörte mich. Er fraß mich bei lebendigem Leib auf, doch es gab nichts, was ich tun konnte, um ihn zu beenden. Die Sehnsucht nach Marco behielt Tag und Nacht die Oberhand. Ich wollte ihn um jeden Preis zurückhaben, denn ohne ihn an meiner Seite war mein Leben nichts wert. Ich war nichts wert. Davon war ich felsenfest überzeugt.

 

Es wurde kein guter Tag. Beim Einkaufen traf ich ein Paar aus Marcos und meinem Freundeskreis. Ich erstarrte förmlich zur Salzsäule, als ich die beiden entdeckte – und sie mich. Mit Begegnungen dieser Art konnte ich zurzeit nicht besonders gut umgehen, weil sie mich zu sehr an die Vergangenheit erinnerten und an das, was nicht mehr war. Hinzu kam, dass ich mich verstellen und gute Miene zum bösen Spiel machen musste, wenn ich die Form wahren wollte. Das ging eindeutig über meine Kräfte.

„Rosh, Mensch, wir haben uns ja ewig nicht gesehen! Du siehst toll aus … und dünn bist du geworden … Wahnsinn. Ich freue mich!“ Nina ging sichtlich auf in der Rolle der überschwänglichen und gut gelaunten Freundin, die sich wahnsinnig freute.

Am Arsch, dachte ich. Du hast dich ein beschissenes halbes Jahr lang nicht ein einziges Mal bei mir gemeldet.

„Tja.“ Ich gab mir Mühe, mein Lächeln nicht allzu gequält und meine Stimme nicht gekünstelt klingen zu lassen, auch wenn sie sich irgendwie schrill anhörte. „Ich nenne es ›die Trennungsdiät‹. Damit wirst du ruckzuck zehn Kilo los!“ Na ja, eigentlich waren es nur neun gewesen. An dieser Stelle jedenfalls bitte fröhlich lachen – nein, das klang eher nach einer Kettensäge. Zumindest reichlich hysterisch. Ich musste hier weg.

Aber Nina drehte nun richtig auf. Nach einer Schrecksekunde, in der sie verstummte, weil ich das Wort „Trennung“ in den Mund genommen hatte, fuhr sie übergangslos fort, mich mit einem Wortschwall zu überschütten. Verlegenheitsgequatsche hätte ich es an einem besseren Tag vermutlich genannt, aber heute widerte mich ihr demonstrativ munteres Geplauder einfach nur an. Ihr Mann Jannik stand die ganze Zeit stumm daneben und tat so, als sähe er mich zum ersten Mal. Jedenfalls hätte er nicht teilnahmsloser sein können.

Nach einigen schier endlosen Minuten, angefüllt mit belanglosem Blabla und einsilbigen Antworten meinerseits, war ich erlöst.

„Wir müssen dann auch weiter. War schön, dich zu sehen, Rosh. Bis bald mal wieder. Tschüss!“ Nina winkte mir leutselig zu und zog mit einem sichtlich erleichterten Jannik im Schlepptau von dannen. Ich wusste nicht, ob ich kotzen oder in Tränen ausbrechen sollte, und sah zu, dass ich zu meinem Auto kam.

 

Nach dieser Begegnung war ich mal wieder in absoluter Selbstmordstimmung. Ich wuselte durch die zweieinhalb ebenerdigen Zimmer des Minihauses, durch dessen alte Holzfenster die Sonne hereinschien, und heulte vor mich hin. Das ging prima nebenbei, während ich die Einkäufe verstaute, meine restlichen Bücher aus den Umzugskartons in die Regale im Wohnzimmer räumte, das Bett frisch bezog und dabei Billy Talent auf voller Lautstärke hörte.

Diese Arschlöcher … nicht Billy Talent, sondern Nina und Jannik. Erst scherten sie sich über Monate einen Dreck darum, ob ich lebte oder am nächsten Baum hing, und dann führte Nina eine Schmierenkomödie der Wiedersehensfreude auf. Mit keinem Wort hatte sie Marco oder seinen Auszug erwähnt, obwohl sie natürlich genau darüber Bescheid wusste. Mich hatte sie nicht mal gefragt, wie es mir ging oder wo ich jetzt wohnte. All die Monate nicht ein Anruf, nicht mal eine Textnachricht. War es Feigheit? Oberflächlichkeit? Oder, noch schlimmer, totale Gleichgültigkeit?

Der Gedanke tat weh – so weh, dass ich mich hinsetzen musste. Noch eine bittere Pille, die ich zu schlucken hatte, ob ich wollte oder nicht. Was hatte ich noch nicht mitgekriegt in den letzten Jahren? Was in aller Welt stimmte nicht mit mir?

Abends im Pub hätte ich liebend gern Sean mein Leid geklagt, aber der hatte alle Hände voll zu tun, weil die Kneipe bis auf den letzten Platz besetzt war. Der Abend war schon ziemlich weit fortgeschritten, als er sich schließlich für eine kurze Pause zu mir ans Ende der Bar setzte.

„Okay, Lass. Was ist los? Du siehst nicht gerade glücklich aus.“

Lass war die irische Koseform für „Mädchen“. Es war nett von ihm, mich so zu nennen, aber mich konnte gerade rein gar nichts aufheitern.

Er leerte ein Glas Cola in großen Zügen und wischte sich mit dem Handrücken über die verschwitzte Stirn. Seine rotblonden Haare, die er halblang trug, wirkten ein wenig zerzaust.

„Irgendwas ist passiert. So gut kenne ich dich mittlerweile.“

„Ach, nichts Dramatisches. Ich habe beim Einkaufen bloß Nina und Jannik getroffen. Mit denen waren wir früher … also, das sind Freunde von Marco und mir. Oder zumindest dachte ich, dass sie das wären“, grollte ich und rührte schlecht gelaunt in meinem alkoholfreien Cocktail. Kein Wodka mehr für Róisín, oh nein! Davon hatte ich in der jüngeren Vergangenheit einfach zu viel konsumiert.

Sean musterte mich aufmerksam. „Und das nimmt dich so mit? Oder haben sie sich blöd verhalten?“

Ich schilderte ihm Ninas Auftritt in Kurzform und hätte schon wieder heulen können. Sean sah mich mitfühlend an. „Lass dich doch von solchen Luftpumpen nicht runterziehen. Scheiß drauf, hörst du? Wahrscheinlich sind sie völlig überfordert mit der Situation und wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen. Vergiss sie einfach. Du hast genug richtige Freunde.“

Er schenkte sich noch ein Glas Cola ein. Ich schwieg, während ich über seine Worte nachdachte. Vermutlich hatte er recht, aber das machte es irgendwie nicht besser.

„Übrigens …“ Sean rülpste ungeniert und fuhr sich durch die Haare, um dann direkt mit der Tür ins Haus zu fallen. Das war so seine Art. „Was hältst du davon, mir hier im Pub zu helfen? Nur so an ein, zwei Abenden in der Woche. Mir ist heute schon die zweite Aushilfe abgesprungen, die machen mich noch wahnsinnig … und du könntest dringend Ablenkung vertragen. Hier kommst du garantiert auf andere Gedanken.“

Sein Lachen klang ein bisschen unheilverkündend, aber vielleicht bildete ich mir das auch bloß ein.

„Hä? Ich soll für dich arbeiten? Kellnern, meinst du?“

„Kellnern, an der Theke stehen, was so anfällt. Los, gib dir einen Ruck. Ich kann dir kein Staatsgehalt zahlen, aber das Trinkgeld kannst du behalten. Wirst bestimmt reichlich kriegen. Die Tresenschlampe steckt dir doch im Blut.“ Diesmal lachte er lauter und obendrein noch ziemlich unverschämt. Ich versetzte ihm einen Stoß, sodass er fast von seinem Hocker fiel. Und damit war die Sache eigentlich abgemacht.

Ich würde also für Sean arbeiten. Na schön, warum nicht? Das mit der Ablenkung war ein Argument. Der Extraverdienst sowieso. Außerdem wurde ich den Verdacht nicht los, dass ich mit diesem Job irgendwie meine Vorsehung erfüllte, denn nicht nur Sean hatte eine Affinität zu irischen Pubs. Und das wusste er natürlich ganz genau.

Dass er in Wirklichkeit Sven hieß und gebürtiger Ostfriese war, hatte ich ja schon erwähnt. Mit Ende zwanzig hatte er von heute auf morgen alles hingeschmissen, war nach Irland gegangen und dort fast zehn Jahre lang geblieben. Er hatte in der Gastronomie und im Hotelwesen gearbeitet und war im ganzen Land herumgekommen.

Der Grund, aus dem er überhaupt in seine alte Heimat zurückkehrte, war eine Erbschaft gewesen. Der jüngere Bruder seines längst verstorbenen Vaters war einem Krebsleiden erlegen und hatte Sven und seinen Geschwistern diverse Immobilien vermacht, darunter ein Hotel und mehrere Ferienhäuser, was an der ostfriesischen Küste einer Art Goldgrube gleichkam.

Abgesehen vom Minihaus, das, wie ich erst später erfuhr, das Geburtshaus seines Vaters war, hatte Sven seine Anteile nach kurzer Zeit an seine beiden Brüder verkauft und sich eine Eigentumswohnung direkt am Wasser geleistet. Dann hatte er sich die alte Bahnhofskneipe des Ortes vorgenommen und sie mit viel Liebe und Geld in einen Pub verwandelt, der den Vergleich mit irischen Originalen nicht zu scheuen brauchte. Als ich das ihm gegenüber einmal erwähnte, platzte er fast vor Stolz.

Mein letzter Besuch in Irland war zwar schon fünfzehn Jahre her – ich war damals knapp zwanzig gewesen und hatte mir eingebildet, ich könnte meinen Vater dazu bringen, von meiner Existenz Notiz zu nehmen –, aber ich hatte genügend Pubs von innen gesehen, um das beurteilen zu können. Vor allem den meiner Großeltern väterlicherseits. In einem abgelegenen Nest im Nordwesten Irlands, direkt am berühmten „Wild Atlantic Way“, führten sie O’Reilly’s in der gefühlt fünfzigsten Generation. Damit lag mir das Kneipengeschäft sozusagen offiziell in den Genen.

Als ich Sven von alledem erzählte, war er baff. Von diesem Tag an war ich seine Verbündete. Er vertraute mir an, dass er sich Sean nannte, um als Pubbesitzer authentischer zu wirken. Da wir in einem Küstenort wohnten, wurde der Pub besonders im Sommer von vielen Touristen besucht, die sich beeindruckt zeigten, wenn sie von einem vermeintlich echten Iren bedient wurden. Unnötig zu erwähnen, dass der Laden brummte.

Und weil es so naheliegend war, ging ich selbst dazu über, Sven Sean zu nennen. Dass er nicht wirklich so hieß, hatte ich schon fast vergessen.

Angesichts all unserer Gemeinsamkeiten wunderte es mich kein bisschen, dass er und ich uns so gut verstanden. Wir teilten sogar den seit Langem nicht mehr vorhandenen Vater, auch wenn seiner unfairerweise tot war und meiner quicklebendig. Arschlöcher lebten eben länger.

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Das Buch 'La Paloma' von Gisa Pauly liegt auf einem hellen Holztisch. Es ist von Muscheln, kleinen Dekorationsformen in Form von Fischen und Sternen umgeben. Das Buch 'La Paloma' von Gisa Pauly liegt auf einem hellen Holztisch. Es ist von Muscheln, kleinen Dekorationsformen in Form von Fischen und Sternen umgeben.
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